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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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in unserem Land sowieso verpönt. Wer das Jahr 1933 mit 1919 in Verbindung bringt, wird zum rechtslastigen Schwein erklärt, und aus ist es mit ihm in unserer Demokratie. Daß zwei Drittel der Deutschen Hitler nicht gewählt haben, sollte man öfter erzählen, aber das interessiert heute niemanden mehr und ändert auch nichts daran, an gar nichts. - Die Republikaner werden jetzt nicht mehr«Neo-Nazis»genannt, sondern Post-Faschisten. Weiß nicht, was daraus folgt. Weizsäcker sagt: Protestwähler seien das. Ich glaube, daß das mit Nationalsozialismus gar nichts zu tun hat. Eher mit dem Westerwald.
    Sieben Fernsehprogramme können wir jetzt empfangen. Österreichische Nachrichten, interessant. Norddeutschland kommt nicht drin vor.
    Russen haben jetzt zugegeben, daß damals aus Afghanistan gar kein Hilferuf kam. Haben pro Jahr 15 Mrd. Rubel dafür ausgegeben,
das Land für immer zu ruinieren. Die Heldenkämpfer, ach, wie ich ihnen diese Niederlage gönne. (Afghanen sagen zu Recht, dann sollten die Russen jetzt auch 15 Milliarden jährlich für den Wiederaufbau ausgeben.) Es heißt, die Sowjets haben das gesamte Bewässerungssystem zerstört, das lasse sich nie wieder reparieren. Millionen von Minen, keiner weiß mehr, wo sie genau liegen. - Und diese Mudschaheddin-Leute, diese Tierquäler, die schneiden doch jedem die Gurgel durch. Wie gut, daß wir diese Art Nachbarn (noch) nicht haben.
    SU stehe vor dem Kollaps. Wenn man Einzelheiten hört, kann man nicht glauben, daß Gorbatschow es schafft. Inflation und Arbeitslosigkeit werden erwartet.
    400 000 Aus- und Umsiedler werden es in diesem Jahr sein, die die BRD zu verkraften hat. Im Hinblick auf Geburtenziffern nicht schlecht. Was wohl geschehen würde, wenn die DDR die Grenzen aufmacht, das würde gar nicht funktionieren hier. Höre noch Kohl sagen, daß die Sache mit den Aussiedlern sein Werk sei, er habe dafür gesorgt. Und darauf sei er stolz. - Diese Leute versickern sofort, kriegen Arbeit und wühlen wie die Irren. Sie heißen Hans Winter oder Sophie Herbst. Film über deutsche Siedlungen im Osten, Häuser frisch gestrichen, russische daneben verfallen. Das gefiel der Kommentatorin nicht. Die Häuser der Deutschen seien ja so schrecklich ordentlich. Die russischen Häuser, schief und krumm, gefielen ihr besser. Müßte man mal ihr Wüstenrot-Haus einblenden.
    Heute Sendung über ČSSR. Daß Masaryk die Deutschen nach 1918 als Menschen zweiter Klasse bezeichnet und behandelt hat, nur tschechische Beamte ins Sudetenland gesandt. Nur tschechische Fabriken bekamen Staatsaufträge. Und so weiter. So was hört man selten! Auch Benesch hat schuld. War das nicht dieser Typ auf dem Pferd? Was hatten wir dem getan? Hatte der auch eine verkorkste Jugend?
    150 Wildgänse in einem Keil, sie ziehen nach Norden. Pastor Scheele in Breddorf, am Volkstrauertag 1961 bei Regen, am Kriegerdenkmal:
    «Fahr’ zu, fahr’ zu, du graues Heer!»
    Das hat mich damals gerührt. Man hätte so gern ein Vaterland. Eine Dame schickt plattdeutsche Gedichte:
    Dat wier in Krieg in Kinnergoren,
ick müßt dei lütten Gören wohren …
    Der Brief eines Rechtsanwaltes . Als ich den Briefkopf auf dem Umschlag sah, hab’ ich mich vielleicht erschrocken! Es war aber nichts besonderes. Keine Verklagung, kein Schadensersatz … Der Herr erzählt mir, daß in seiner Familie interessante Dokumente vorhanden sind, u. a. eine Korrespondenz mit Immanuel Kant. - Wie sagen die Russen: Eto minja interessujetna … Das interessiert mich nicht. Wir wollen uns hier auf das große 20. Jahrhundert beschränken. Wir sammeln hier das Alexanderschlacht-Gewühle der Namenlosen.
    Thomas Mann: Tagebuch. Sehr komische Vorstellung, daß er im Zug eine halbe Stunde zum Essen anstehen mußte.

Nartum
So 2. Juli 1989
    Welt am Sonntag: Baby-Geld: Kohl gegen Bevorzugung von Beamten/Koalitions-Runde kontra Schäuble - Abgeordnete warnen vor neuem Sommer-Theater
    Sonntag: Ein vitaler Polyhistor. 90. Geburtstag von Gabriele Mucchi. Von Petra Gottschling und Hans Jürgen Papies
     
    Eine Frau rief gestern an, sie sei so unglücklich - ich sprach ein wenig mit ihr.
    «Die Straßen sind menschenleer …»(lyrische Passagen in Fernsehnachrichten über Beirut).
    Fußball: Ein rückwärtsstolpernder Torwart. - Damen-Fußball. Wenn man’s nicht weiß und nicht so genau hinguckt, denkt man: Was ist denn mit denen los? Die sind ja so lahm? Die hellen
Stimmen, wenn sie rufen. Da gibt’s welche, die ganz vernünftig aussehen, und richtige

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