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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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geheuer. Er sah mich von der Seite an, ob ich nicht ganz bei Trost bin? - Im übrigen ist er ein angenehmer Hausgenosse. Meistens sitzt er auf seinem Bett und spielt Mandoline. Abends erzählt er von seinem jähzornigen Vater lustige Geschichten.

    Ich aß dann noch mit ihm in Gyhum: 44 Mark! Der Mann kommt mich teuer zu stehen.

Nartum
Do 31. August 1989
    Bild: So was haben Sie noch nie gelesen/Liebe Ida … Wussow rechnet in«Hörzu»mit seiner Frau ab: Alkohol, Sex, Tabletten, Geld, Erpressung, Morddrohungen, schmutzige Lügen, Telefon-Terror /Honecker Krebs:«Aufgemacht und wieder zugemacht»
    ND: Gediegene Ausbildung für über 340 000 Jugendliche
     
    Lesung in Seevetal. - Mißverständnisse mit einer Dame, die sich von mir angepflaumt fühlte. Rief hier heute morgen an, was ich mir dabei gedacht hätte usw. Ich reagierte affirmativ. Gleich alles zugeben und sofort entschuldigen. - Ein Zuhörer schenkte mir einen kleinen Pflasterstein. Sie nehmen vor seinem Haus die Steine auf, sagte er, sei das nicht unerhört? Er liegt, er«steht»auf meinem Schreibtisch. Wohin damit? Man kann ihn nicht wegwerfen, das geht irgendwie nicht. Ich werde eine Vitrine einrichten mit Geschenken meiner Leser. Dort wird er einen Ehrenplatz erhalten.
    Ein Herr aus Schwerin schickt mir ein drei Seiten langes Gedicht unter dem Titel«Wach auf! Deutscher, wach auf!»Die Grundlage seines Denkens sei das Schaffen Ernst Moritz Arndts, Th. Körners und die Ideale der deutschen Urburschenschaft in Jena.«Ich meine, man soll dem deutschen Volk wieder etwas Stolz geben, er würde besonders unseren vielen gebrochenen Seelen zugute kommen …»
    Herder habe an Leberverstopfung gelitten und an Hämorrhoiden, lese ich, die sich wie ein eiserner Reif um seine Lenden legten. Es gibt eine hübsche Seereisen-Schilderung von ihm. Es fällt mir sonst nichts weiter zu ihm ein, leider. Er kam in meinem Leben bisher noch nicht vor.- Bleibt noch viel zu tun.

    Das Tagebuch Wedekinds, Gerhard Hay hat es herausgegeben, es hat in der Handschriftenabteilung der Stadtbibliothek München gelagert. Du lieber Himmel, was für Reichtümer wohl noch zutage treten. Für das«Echolot»werde ich sämtliche Archive abklappern müssen. - Wedekind beschreibt ein Abendessen bei Gerhart Hauptmann:«Der Tisch ist mit dreierlei Fisch, zweierlei Fleisch, viererlei Kompott und einem schweren Reispudding besetzt.»Er meint, H. sähe wie ein Tollhäusler aus,«mit seinem grotesken, etwas blöden Profil».
    Post: Ein Umschlag mit Fotos kam, Mädchen mit Rucksack vor Staubwolke. Söckchen in schweren Schuhen. Deutschland wie jener Blick aus dem Fenster in der«Feuerzangenbowle», als Pfeiffer das Zimmer mietete.

September 1989

Nartum
Fr 1. September 1989
    Bild: Mark und Anne/Aus/Es dauerte 15 Jahre
    ND: Unsere Tat für den Frieden, die DDR, den Sozialismus
     
    Kriegsausbruch, 50 Jahre her!
    Kriegsausbruch. Ich saß in einer Solebadewanne in Bald Sülze, und da hab’ ich den Kriegsanfang erlebt. Ich hatte irgendwie zu wenig Blut. Da wurden wir allmorgendlich in Holzbottiche gesteckt. Und als ich da also in der Wanne saß, tönte aus dem Lautsprecher - kann das sein? - die Sondermeldungsfanfare? Jedenfalls ungewöhnliche Musik. Und dann wurde verkündet: Ab soundsoviel Uhr wird zurückgeschossen. Und da sagte einer:«Naja, diese Polacken …»Uns erschien das wie Kirchweih, nicht wie ein ernstzunehmendes Unternehmen. Polen, die waren uns nicht geschildert als Menschen, die Krieg führen können. (Ein Professor, *1930)
    «Das Panzerschiff ‹Schleswig-Holstein› eröffnete das Feuer auf die Westernplatte», sagen sie in den Nachrichten. Es war kein Panzerschiff, sondern ein Linienschiff, und zwar eins aus dem
    I. WK, mit sogenanntem Hoheitsadler an der Brücke. Polenfeldzug. Die Deutschen mit ihren quietschenden Klein-Tanks.
    Merkwürdigerweise scheint im Augenblick die Terribilität Hitlers in den Medien zu schrumpfen, ich will nicht sagen: ins Periphere; aber seitdem die Russen alles zugeben, traut man sich erst, von der Bestialität des Stalin-Staates zu reden. Deshalb auch der Widerstand der Linken: Keinen Schritt zurück, sonst gerät ihr Alleinvertretungsanspruch auf Selbstbezichtigung in Gefahr. Nun warten wir mal auf Kollektivscham der Russen. Aber sie verweigern frech eine solche Unumgänglichkeit.

    Was da an Denunzianten, Schreibtischtätern, Verhaftungs-, Bewachungs-, Folterungskreaturen noch frei herumläuft, das ist ja eine Millionenarmee. Und die Gutheißer! Man

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