Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
spielte ein Schubert-Impromptu, nicht schlecht.
    Hildegard hinterher: Wer hat da gespielt? - Es war eine andere Handschrift.
    Post: Ein Romanmanuskript angesehen. - Im Begleitbrief unverschämte Lügen.«Ich schätze Sie seit langem …»- Die Regel ist, daß Leute, die von mir gefördert werden wollen, keine Zeile von mir gelesen haben. Diese Leute wissen also gar nicht, ob eine Förderung durch mich lohnens- oder wünschenswert ist. Solche Sachen werde ich in Zukunft nicht mehr beantworten. Etwas anderes ist es, wenn der Betreffende etwas einsendet, was Talent verrät. Dann würde ich nicht animos sein, dann würde ich mich für ihn einsetzen. Ebeling in Lüneburg, der dann aber so schusselig war, daß er die Brücken, die ich ihm baute, nicht beschritt. Meine Möglichkeiten liegen im Mikroskopischen und in der Skurrilität. Intuition ist alles, Kontrolle, Abstimmung.
    Am Abend fuhr ich mit Hildegard in die Lüneburger Heide zu einer privaten Lesung. Verirrten uns noch halbwegs, weil da ein Truppenübungsplatz querlag. Die Sache wurde zu einer lachhaften Enttäuschung. Von den zusammengetrommelten Gästen - Reitdamen und Herrn von der Industrie, hatte keiner auch nur eine Zeile von mir gelesen, alles«obere Zehntausend», folglich - wie hierzulande (Niedersachsen!) - meist ohne jede Kultur.
    «… und wo stammen Sie her?»wurde ich gefragt.
    Die Gastgeberin hatte sich zuvor den«Block» geliehen . Sie erzählte,
daß sie einen Schmuck gekauft hat und trägt, eine Agraffe, die sie als Schuhschnalle verwenden kann, oder ins Haar stekken, je nachdem. Wie die wohl kreischen würde, wenn man sie in die Ecke drängte und an den Busen faßte. - Nie wieder!! rief ich auf der Heimfahrt laut! - Aber man tut’s denn doch, hinfahren zu solchen Leuten. Hildegard meinte übrigens, das seien auch nur Menschen. Ich kann sagen, daß mich das noch mehr erbitterte.
    Golo Mann schreibt, daß er Hebbels Tagebücher gern gelesen hat. Seinem Vater haben sie nicht gefallen. Der verabscheute besonders die Eichhörnchenstelle, die ich mir sogar mal rausgeschrieben habe.

Nartum
Mo 23. Januar 1989
    Bild: Nenas behindertes Kind ist tot
    ND: Zuwachs bei Erzeugnissen mit höchstem Gütezeichen
     
    Bei«Ali Baba»meine schönen, mit Joghurt gefüllten Teigröllchen und dazu der Vorspeisenteller, vorher Tomatensuppe, deren eingelaufener Käse lange Fäden zieht. 80 DM.
    Zwei Studentinnen leisteten mir Gesellschaft.
    «Dies sind meine beiden Töchter.»
    Türke:«Jaja, ich weiß.»
    Eine der beiden ist in Südafrika geboren, was man ihr hier vorwirft. Kinder haften für ihre Eltern.
    Am Nebentisch zwei Professoren mit indischen Gästen. Die Deutschen brachten es fertig, mich nicht ein einziges Mal anzusehen. Ich bin zwar nicht in Südafrika geboren, aber ich habe mich gegen den Sozialismus schwer vergangen. Sowas ist von jeglicher Resozialisierung ausgeschlossen.
    «Was haben Sie gegen Ausländer?»
    «Im Prinzip nichts. Aber sie lesen meine Bücher nicht.»
    Gestern tauchte hier das Münchner Gitarrenquartett auf, wir
hatten die jungen Leute in Portland kennengelernt. Das war damals ein Gruß aus der Heimat.
    In Portland gab es auch eine Begegnung mit einem Stuttgarter Kammerchor, die u. a. Nepomuk David sangen. Ob ich nicht vielleicht eine Hugo-Distler-Biographie schreiben wolle? fragte mich der Dirigent, von einer Kempowski-Fanin an mich herangeschubst. Distler? Das ist so eine Sache.
    Kleine Leute, kleines Haus …
    Die Mörike-Lieder, wiegend und wogend …
    Wir setzten die jungen Musiker in den Pavillon, kredenzten ihnen Kaffee und Kuchen und führten ein lala-Gespräch, wie das mit Musikern eben so geht. Wenn man sie von ihrem Instrument trennt, verstummen sie. Alles an ihnen ist Introvertiertheit und Technik.
    Eine ahnungslose Bremerin chauffierte sie hierher.
    Jeder kriegte ein Buch geschenkt, und dann zogen sie ab. Nie wieder werden wir etwas von ihnen hören. Weshalb auch?
    Musiker lesen nicht, es sei denn, sie vertonen Gedichte von Mörike oder andern.
    Alle Maler lesen, und alle Maler können gut erzählen. Maler sind meine Freunde, weil sie klare stilistische Vorstellungen haben und weil sie Bücher kaufen. Musiker neigen zur Weltfremdheit. Auch mit Schauspielern ist das so eine Sache … Mit denen läßt man sich am besten überhaupt nicht ein. - Ich verallgemeinere gelegentlich, das fällt mir grade auf. - Wenn ich durchs Haus gehe, stelle ich mir vor, ich sehe es nach langen Jahren des Exils oder der Gefangenschaft endlich

Weitere Kostenlose Bücher