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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Intolerante Vegetarier. Was sollen da erst die Fleischfresser sagen?
     
    Heute wird an den heiligen Sebastian erinnert: Von Pfeilen durchbohrt, mit Knütteln totgeschlagen und in eine Kloake geworfen. Er hatte seinen christlichen Glaubensgenossen in den Gefängnissen Roms beigestanden.

Nartum
Sa 21. Januar 1989
    Bild: Transit nach Bayern zu: 100 Unfälle, ein Toter, Verletzte
    ND: 1989 erneut für 300 Millionen Mark Konsumgüter zusätzlich zum Plan
     
    Ungenügend gegessen, schlechtes Brot.
    Der Wind heult und stößt ums Haus.
    Morgens kamen 15 Schüler aus Zeven und schwiegen mich drei Stunden lang an. Plankton war ihnen nicht zu entlocken. Ich mußte an Professor Lehmensick denken, in Göttingen, der für solche Gelegenheiten einen Kasten Geduldspiele unterm Bett stehen hatte.
    Als sie gegangen waren, sah ich mir im Archiv das Manuskript von«Tadellöser»an, die Streichungen von Michael Krüger, zum großen Teil wohltuend. Das hat mir bei meinen anderen Büchern gefehlt, ein Mensch mit Autorität, der den Text genießerisch auskämmt. Man ist doch ziemlich allein mit seinen Erzeugnissen, und man wird immer«alleiner».
    Dorfroman: Am Nachmittag legte ich mir eine Patience, wobei mir Hildegard über die Schulter sah, was mir nicht recht war: Ich bin gern mein eigener Kiebitz. Sie will immer Streitpatiencen mit mir legen. Warum sollte man in eine endlich befriedete Ehe künstlich Streit hineintragen? Außerdem verliere ich ja doch.
    In Oldenburg wäre ich heute um ein Haar«gescheyteret». Es ging ums Lesenlernen. Um die ausgefallenen Sitzungen ein wenig einzuholen, faßte ich einiges zusammen, was sonst weggefallen wäre. Ich sagte, der Lehrer dürfe nicht wie ein Kasper sich benehmen, nicht onkelhaft die Augen aufreißen usw. Da ruft einer:«Aber Sie benehmen sich hier doch selber wie ein Kasper!»Und dann fragte er mich, wieso ich denn nicht an die Tafel gehe und was anschreibe und sie dann selbst auf die Probleme kommen und sie lösen lasse.
    Alle sonst Dösenden guckten mich auf einmal an, ja, das verstehen sie auch nicht, daß ich das nicht tue …
    Na, ich hielt erst mal das Maul und atmete tief durch. Dann besann
ich mich noch rechtzeitig auf das Rezept der affirmativen Praxis. Spulte meinen Kram gerafft ab, machte eine Pause und trank erstmal einen Schluck Wasser. Dann schrieb ich an die Tafel:«Leselernmethoden»und fragte die 40 Leute, was für verschiedene Methoden es gibt. Pause. Nichts. Auch der Herr hinten links ließ sich nicht vernehmen.
    Dann fragte ich die Leute um Erlaubnis, eine dieser Methoden nennen und erklären zu dürfen? Ja, also gut. Also weiter.- Feindselige Blicke trafen mich, alle abweisend und contra.
    Daß Oldenburg die Hauptstadt von Ostfriesland ist, diese Erkenntnis führt ja auch nicht weiter.
    Golo Mann schreibt, daß es jedem Menschen eingeboren sei, vor den Toten und ihrer Wiederkehr Angst zu haben. - Kann ich nicht sagen. Ich denke oft an Vater, an Mutter, aber Angst? Nein, eher in Liebe und Trauer, daß sie so einsam sind.
    Lektüre der Zeitschrift«Dame».
    Teigröllchen bei«Ali Baba». Der Koch kam aus der Küche und guckte, ob mir’s schmeckt.

Nartum
So 22. Januar 1989
    Welt am Sonntag: Erst Kohl, dann Weizsäcker nach Polen. Reist der Bundespräsident zum Tag des deutschen Einmarsches nach Warschau?
    Sonntag: Ein Rezept gibt es nicht. Leipziger Arbeit mit Autoren
     
    Ruhiger Sonntagmorgen, mit Frühstücksei und Bach-Kantate, die wir dann allerdings abdrehten, weil sie in gleichmäßig verteilte Schreierei ausartete. Erst aufstehen, weil der Tonabnehmer nicht«faßte», dann aufstehen und lauter drehen, weil nichts zu hören war, und schließlich abwürgen das ganze. Das war dann ein sogenannter«Wanderkaffee».
    Nachmittags, zum Kaffee kam ein freundliches Ehepaar aus der Schweiz. Sie hätten«Lampenfieber»vor mir, sagte die Frau und
entschuldigte sich immerfort. Mir kam dieser Besuch zupaß, zumal herrlicher Kuchen mitgebracht wurde. Beide waren übrigens Sachsen von der gebildeten Sorte, nach dem Krieg nach Zürich gegangen. Haben sich nicht lange in der Bundesrepublik aufgehalten. Amerika usw. Für mich wär’ das damals nichts gewesen: Schweiz oder gar Amerika. Nach der Entlassung schwankte ich, es zog mich an den Bodensee. Aber dann kam Göttingen mit seinen freundlichen Frühlings-Vorgärten, herzerwärmenden Studentinnen und alles weitere.
    Das einzige Ausland, in dem ich leben könnte, wären die USA. Der Gast setzte sich zum Schluß ans Klavier und

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