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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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das Wort«entmaterialisiert»aus seiner Reserve gelockt. (Na, es mag so wirken, weil aus dem Zusammenhang gerissen.) Er las
wenig Schilderungen, wie den Zug mit Panjewagen durch ein gerade frisch gestrichenes deutsches Dorf - in der Ukraine -, die starke Bilder vermitteln. Reflexionen über gut und böse: Bei der Begegnung in Straßburg mit einer Elite-Gruppe: Physiker Weizsäcker unter anderem«elitäres Gehabe». - Sie meinen, sie seien das«andere Deutschland»…, habe ich nicht kapiert. Gelächter im Haus. Warum bringt mich so wenig zum Lachen? Nur Renate und Vaterlein manchmal.
    Lesung: Günter de Bruyn: sehr straffer Stil, wie in Hexametern konstruiert und gelesen. Aber wieder dieselben Geschichten, dieselbe Zeit in Deutschland. Er, Jahrgang 1926, als Kind katholischer Eltern, auch Humor. Ich weiß nicht, ob Moralist? Stölzl kommt mir vor wie ein Manischer. Muß er sich den Optimismus bezüglich seines Projekts immer wieder ausreden? Er redet wie ein Wasserfall, wiederholte sich auch diesmal in Bezug auf seine Funde: Arno Breker, ein Zeichner aus München …. Schaurig das Operationsbesteck. Der Luftschutzraum. Alles wohl gut und nützlich für viele. - Für mich war der Krieg - durch Walters Arbeit - auch nie in der Vergessenheit versunken, also ich brauche diese Erinnerung nicht geweckt zu kriegen. Ist ja auch eher die Frage, wie hält man die Erinnerung wach für unsere Nachfahren - die armen; was sollen sie alles bedenken heute? Das, was ihre Vorfahren ange»richtet»haben. - Wer soll da noch«richten»- und das, was ihre Eltern, d. h. wir mit unserer Bedenkenlosigkeit angerichtet haben: nicht«nur»Mio. Juden umgebracht, sondern ganz still und heimlich mit Fortschritts- und Sauberkeitswahn die Natur umgebracht. - Wie kann man angesichts dessen noch so weiter labern und ackern? Überall und zu allen Zeiten Sand in die Augen gestreut, Scheuklappen angelegt-vom Schicksal-den jeweiligen Akteuren, damit sie weitermachen - auch das Herz kalt gestellt.
    Renate sei ein Mensch wie Meeresstille, sagt Hildegard.
    In der TWA-Maschine erstmalig Papiertüten statt Plastiktaschen. Die Stewardess fragt:«Something to drink?»obwohl sie doch bestimmt schon x-mal die Strecke Hamburg-Berlin gemacht hat. Sie war nicht in der Lage, den Satz auf Deutsch zu sagen, ich mimte wieder meine Taubheitsmasche, tat, als verstünde ich nicht, um sie zu ärgern. Gorbatschow muß scheitern. Das gibt einen gewaltigen Kladderadatsch. Die nächsten Tage sollte ich vielleicht besonders gründlich alles notieren: Honeckers Krankheit, das
Baltikum, die 20 000, Ungarn, Polen: Es sind spannende Wochen.
    Ich fischte ein wenig Plankton in Berlin.

Nartum
Mo 4. September 1989
    Bild: Willy Brandt/Die Lügen über meine Frauengeschichten
    ND: 6000 Aussteller aus aller Welt auf dem Handelsplatz Leipzig / Günter Mittag empfing Präsidenten des DIHT
     
    Feuerlöscher wurden überprüft, drei neue haben wir dazugekauft: 249 Mark!
    Im Ernstfall wird man vergessen haben, wo sie stehen. Wie damals, als ich am Feuerlöscher vorbeirannte, um den Adventskranz zu löschen. Zog im Laufen meine Lederjacke aus und erstickte das Feuer.
    In Berlin einen Zivildienstleistenden (schönes deutsches Wort) gesehen, der sich mit behinderten Kindern aus Wasserpistolen beschoß.
    Das Kuratorium«Knochengesundheit»schickte mir Reklamehefte.
    Guntram Vesper sagt am Telefon, daß er nur Heimatmusik hört, von ernster Musik werde er depressiv.
    Gestern eine Dame mit einer sonderbaren Halskette. Sie bestand aus verschiedenfarbigen Vögeln, die auf ledernen Telegraphendrähten sitzen.
    Neulich eine sogenannte«Grüne»mit silbernem Walfisch an silbernem Kettchen, aber am Schwanz aufgehängt! Unerträglich! Ich war in Zeven beim Antiquitätenhändler und sah seine Bücher durch. Fand einiges für das«Echolot». Der Fotograf Krauskopf war vier Jahre in Sibirien, er hat alle seine Briefe von damals weggeschmissen.
    Im«Süßen Kaufhaus», wo ich meine wöchentliche Ration an Lakritze kaufte, eine 60jährige, oben dicke Frau mit Hängebluse,
Trikothosen (weiß-wie lange Unterhosen), Schlangenlederschuhen. Sie beklagte sich bei der Verkäuferin, daß auf den Pralinen, die sie das letzte Mal gekauft hat, Belag zu finden gewesen sei, aber sie habe das vor ihrem sechswöchigen Urlaub entdeckt, und danach sei ja natürlich eine Reklamation sinnlos. Am Umschlag ihrer Hose ein glitzerndes E. Vermutlich heißt sie Erika.
    Sie sagte es leidend, daß sie sechs Wochen Urlaub gehabt oder

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