Alkor - Tagebuch 1989
Rauhbein war, wurde gezeigt, er hat seltsame Schnüre an sich herumhängen und unter der Nase zwei Plastikdüsen, die ihm wohl Sauerstoff zublasen. Die Physiognomien der englischen Schauspieler, oh, was für ein Niveau gegen unsere doch sehr einheitlichen Typen. Bei uns wird das Besondere irgendwie ausgemendelt, wie in Amerika.
Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in den letzten Jahren einen guten deutschen Spielfilm gesehen hätte. Saurer Kitsch herrscht vor. Unternehmerschweine und edle Ausländer.
Nartum
Mo 25. September 1989
Bild: 10 Mark. Wer rettet diese Kinderaugen?/Menschenjagd in der ČSSR/Flüchtlinge in Ketten nach Ost-Berlin zurück
ND: Bauern haben mit gutem Ertrag ihr Wort eingelöst
Lesung in Wentorf bei Reinbek. Freundliches Publikum. Eine Art Begeisterung griff Platz. Der gealterte Peterpump trat in Tätigkeit, der Lust und Last des langen Lebens getragen hat und
jetzt müde ist! Verdammt nochmal! - Am Signiertisch hinterher unterhielten sich zwei Damen ganz ungeniert über mich. Ich würde natürlich nur von den 50jährigen gelesen, wurde da gesagt, die Jugend läse mich nur, wenn sie muß (nicht einmal dann!). - Das kann ja sein, zu fragen ist nur, was die Jugend denn überhaupt liest, und«50»ist etwas untertrieben. Es gibt auch sehr viele Leser ab 60. - Dies zu meiner Beruhigung. Getroffen hat es mich sehr. (So etwas können auch wohl nur Frauen fertigbringen.)
Ein Herr legte mir im Antiquariat einen Hanser-«Block»vor zum Signieren, für 120 Mark in einem Antiquariat gekauft. Er betreibt einen Handel mit Angelschnüren und sammelt alle meine Bücher. - Im Grunde handle ich ja auch mit Angelschnüren.
Nartum
Di 26. September 1989
Bild: Er wollte anonym bleiben/100 000 Mark/Gottschalk zahlt blindem Kind Operation
ND: DDR Grundpfeiler der Stabilität und der Sicherheit in Europa /Partei- und Regierungsdelegation der DDR führt in Peking politische Gespräche
T: Ich will mit Nahmmacher zusammen Selbstmord machen. Er hat alles gut vorbereitet, im Gebirge, nachts, in den Schnee legen wir uns, jeder hat 75 Valium geschluckt. Ich denke: Und nun habe ich mich gar nicht von Hildegard verabschiedet. (Sie war aber auch zu garstig.) Aber irgendwie rappeln wir uns dann doch wieder auf.
Im TV: Langes Interview mit Peymann über seine Beziehungen zu Thomas Bernhard. P. liebt die Provokation. Vor Jahren hat er mal öffentlich dafür gesammelt, daß Frau Ensslin ein neues Gebiß kriegt. War eine kitschige Sache.
Ungarn hat beschlossen, den Sowjet-Stern aus dem Staatswappen
zu nehmen. Es gilt als sicher, daß sie sich demnächst nicht mehr Volksrepublik nennen werden.«Daß ich das noch erlebe!»rufe ich nun mit den Alten. Über 20 000 sind von dort gekommen.
In der DDR zaghafte Unruhe. 8000 sind gestern durch Leipzig gezogen. Die SPD macht einen ziemlich belämmerten Eindruck: Das hatte sie nicht erwartet, daß es da drüben auch ein werktätiges Volk mit eigener Meinung gibt.
Aus der UdSSR fast jeden Tag verblüffende Neuigkeiten. Man hat den Eindruck, als ob der Scheißstaat ganz auseinanderfällt. Hildegard hilft mir beim«Echolot». Sie liest das, was ich aus Zeitmangel nicht lesen kann, und erzählt mir den Inhalt. Bush hat großartige Abrüstungsvorschläge gemacht. Die erstarrten Fronten lockern sich. So hätte es nach dem Zweiten Weltkrieg gleich gehen können. Die USA hatten bereits mit dem Verschrotten von Flugzeugen und Panzern begonnen, da kriegten sie mit, daß die roten Waffenbrüder das Gegenteil taten.
Ich ging dreimal je eine halbe Stunde im Garten auf und ab. Es war nicht kalt, nicht warm, leichter Wind, absolute Stille. Emsiges Arbeiten am«Echolot». Das ist wie eine Sparbüchse. Glücksgefühle am Abgrund.
Nartum
Mi 27. September 1989
Bild: Herzkatheter/Udo Lindenberg: Ärzte kämpfen um sein Leben
ND: Generalsekretär der KP Chinas empfing Delegation der DDR/Grüße Erich Honeckers an Jiang Zemin von Egon Krenz überbracht
Ich beobachtete auf dem Flugplatz das Heranfahren eines Flugzeugs an die Ausstiegs«nase», oder wie das Dings heißt. Tür wird aufgeklappt, und der fahrbare Gang nähert sich. Sehr originell, futuristischer als jeder SF-Film. - In der Zeitung stehen neuerdings
Schwefelmeldungen, wieviel Schwefel in der Luft ist. - Den Bauern hier sind die privaten Brunnen versiegelt worden. Das Wasser darf niemand mehr trinken. Alles vergiftet und verdorben. Gute, eßbare Kartoffeln müssen wir im Delikatessengeschäft kaufen.
Die Hannsmann
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