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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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aufgespießt
    ND: Scharfer Protest gegen die Schüsse auf DDR-Grenzsoldaten
     
    Ezra-Pound-Buch gekauft in Rotenburg in der Hoffnung, für«Echolot»etwas darin zu finden, leider nein. Es gibt keine genaue Datierung. Die Gedichte sind im übrigen auf den ersten Blick recht unverständlich. Schon fast komisch, daß man sie nicht kapiert. Auch unverständlich sind die Anstreichungen, die ich in dem Buch vorfand. Aber dann plötzlich so etwas:«Ich staune immer wieder über die Kärglichkeit der menschlichen Begabung zum Leben, über die Vielzahl der Dinge, welche die Menschen so bereitwillig in ihrem Dasein missen …»(1914)-Bei seiner Verhaftung erklärte er:«Wenn ein Mann nicht bereit ist, für seine
Überzeugungen ein Risiko einzugehen, dann taugen entweder seine Überzeugungen oder er selber nichts.»Gertrude Stein habe, so steht in Eva Hesses Pound-Buch zu lesen, 1937 gesagt: Hitler hätte den Friedensnobelpreis verdient. Und noch kurz vor Kriegsausbruch habe sie in einem Interview gesagt:
    Hitler wird niemals einen Krieg entfachen. Er ist nicht der Gefährliche. Wissen Sie, er ist ein deutscher Romantiker. Er will die Illusion des Sieges und der Macht, den Glanz und die Glorie des Krieges, aber das Blut und die Kämpfe, die notwendig sind, um den Krieg zu gewinnen, würde er nicht ertragen können. Nein, Mussolini - das ist der gefährliche Mann, denn er ist italienischer Realist. Der würde vor nichts haltmachen.
    «Ich danke Ihnen von Herzen», sagte die Verkäuferin, als ich das Buch (aus der Grabbelkiste) für 3,50 DM kaufte. Sie hatte sich die Augenlider schwarz gemacht.
    Die Trauer, mit der mein Kamerad Hoffmeister, ein gelernter Schuhmacher, in der Zelle zu mir sagte:«Ach - du hast Schule besucht …»Ich verstand als«höherer»Sohn gar nicht, was er damit meinte. Bildungsmangel als eine Verkrüppelung erfahren. Ein Anflug von traurigem Neid. Wie hier in Nartum Herr Melzer, ein ungelernter Arbeiter, der ein Buch über die Römische Geschichte in die Finger bekam und plötzlich zu lesen anfing. Er ließ anfragen, ob wir nicht mal eine Flasche Wein trinken wollten und uns über Römische Geschichte unterhalten könnten? - Hab ich’s getan?
    Las in der Bio 588 über den Exodus der Juden aus Paris 1940. Sollte ich so etwas nicht neben die deutschen Fluchtbeschreibungen von 1945 stellen?
    In der ZEIT Flüchtlingszahlen der«DDR»:
    1959 _____________________________________________________
143 000
1960 _____________________________________________________
200 000
1. Halbjahr 1961 ___________________________________________
100 000
Juni 1961 _________________________________________________
20 000
Juli 1961 _________________________________________________
30 000
August 1961 täglich ________________________________________
2000
    Ich lese eine Broschüre, in der geschildert wird, wie sieben US-Soldaten im Pazifik notlanden müssen, drei Wochen im Schlauchboot, dann Insel. Haie, die um das Schlauchboot kreisen. Durchsetzt von Bibelsprüchen.
    Auch die Westphal-Erinnerungen (General); Afrika und Kriegsende. Das unglaubliche Benehmen der Amerikaner in Nürnberg gegen ihn, der nur Zeuge. Überhaupt, die Amerikaner.
    Mir, dem gelernten Druckereikaufmann, erklärte Grass, wie das Drucken funktioniert, in der Niedstraße war das, und die Geschenke, die er aus Mexiko mitgebracht hatte, aus Zahnstochern verfertigte Weihnachtskrippen, standen auf den Fensterbrettern. - Es wird immer viel herumgemäkelt an seinen Texten, und in der Tat: Es ist manches unerträglich, die«Schnecke»z. B., diese Kinderbelehrungen, und die«Rättin»:«die dritte Köchin»in ihm! - Doch, wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen. Man sollte ihm als Personifizierung der deutschen Literatur den Nobelpreis geben. -«Kempi»hat er mal zu mir gesagt, und das nehm’ ich ihm gut.

Nartum
Fr 22. September 1989
    Bild: Boris heimlich in die DDR/Aufwartung bei Karens Oma
    ND: Täglich unser Bestes für die sozialistische Republik
     
    16 Uhr. - Eine Frau mit goldenen Schuhen und schwarzgefärbtem Bubikopf in Begleitung eines Zwei-Zentner-Mannes. Ob die Allee was zu bedeuten habe? - Sie fragt das Huhn durch die Glastür hindurch:«Na, wie heißt du denn?»- Dann erzählte sie, sie habe auf einer Gartenparty ihren Ehering ins Sektglas getan, damit der Sekt nicht so sprudelt. Und irgend jemand habe den Rest Sekt und Ring in den Garten geschülpt. Sie müsse den Ring gelegentlich mal suchen.
    Im Hotel habe der Knauf vom

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