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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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verdeutlichen: Unten liegt spiegelverkehrt die Schrift, von oben kommen Farbe und Papier. So ist es beim Schreiben auch. Unbewußtes
und Bewußtes. Die rätselhaften Schriftzeichen werden erst durch Farbe lesbar (entzifferbar).
    Die Frage ist, ob Fliegen auch eine Seele haben. Von Rindern nimmt man das ohne weiteres an. Vielleicht haben sie eine ganz kleine?
    Schostakowitsch: 15. Symphonie. Das ist«Echolot-Musik».
     
    Ein Herr aus Norderstedt schreibt über«Hundstage»:«Du mit deinem Kempowski», habe seine Frau gesagt.
    Ein Mann kam, stellte sich als Sowieso vor. Chefarzt a. D., und die Frau neben ihm als ehemalige Oberin. Ob ich ein Buch mit Widmung für ihn hätte? Ob ich aus Rostock sei?«Sind Sie noch im Schuldienst?»-«Ihr Verlag heißt doch Knaur, nicht?»
    Er war schnell wieder draußen.

Oktober 1989

Nartum
So 1. Oktober 1989
    Welt am Sonntag: Flüchtlinge: Genscher und Seiters nach Prag/ 3500 DDR-Bürger in Bonns ČSSR-Botschaft/Fluchtbewegung via Ungarn verstärkt
    Sonntag: Die Einsamkeit des Tapferen. Carl von Ossietzky zum 100. Geburtstag. Von Stephan Hermlin
     
    5000 Fußabstimmer aus Prag, 700 aus Warschau, und Tag für Tag 500 aus Ungarn. In der ZEIT (Dossier) faseln sie davon, daß die Bürger der DDR nur Reformen mit der SED machen wollten, keinesfalls ein kapitalistisches System anstrebten. Wenn das man nicht Wunschdenken ist, geboren aus dem schlechten Gewissen, weil sie so lange die DDR in rosa Farben malten.
    «Haben wir denn gar nichts richtig gemacht?»fragte der DDR-Beamte die Fußabstimmer am Tor der Deutschen Botschaft in Budapest.
    Nein! Nichts. Gott sei Dank nicht!
    Im Leitartikel der ZEIT steht zu lesen, daß die Läden, die an der«Protokollstrecke»liegen - über die Honecker zur Arbeit fährt -, morgens ihre Eingänge nach hinten verlegen mußten, damit der Staatsratsvorsitzende die Käuferschlangen nicht zu sehen kriegte.
    Nawrocki glaubt nicht, daß die schweigende Mehrheit kein westliches System wolle. Er wundert sich darüber, daß im Neuen Forum und in anderen Reformgruppen überhaupt nicht von Wirtschaft gesprochen wird. - Ein Kirchenmensch in Osnabrück hat die Übersiedler gewarnt, das Leben im Westen bestehe nicht nur aus Wohlleben und Reisen! Na, das wird den Kameraden drüben wohl bekannt sein. Ein bißchen mehr haben sie
drüben schon entbehren müssen, als hier die pensionsberechtigten Gottesmenschen.
    Es wird gemeldet, daß die Strecke, über die die Züge mit«Ausreisern»fuhren (in der DDR), von Leuten gesäumt gewesen sei, die gewinkt hätten. Das ist Fakt, hätte Ulbricht gesagt (Bettlaken aus den Fenstern gehängt). - Vogel spricht vom«Wiedervereinigungsgerede», das aufhören müsse. Als ihn die Reporterin fragte:«Was meinen Sie damit?», geriet er arg ins Stottern. Ja, er könne das Wort nicht mehr hören. - Und wir können ihn nicht mehr sehen!
     
    Das«Dorf»-Buch lebt schon in mir, es sind einige, wenige Bilder, die möglicherweise durch Worpsweder Bilder beeinflußt sind oder gar von ihnen hervorgerufen. So die Leiche des Mädchens auf dem Wäschesteg (erinnert etwas an die ertrunkene alte Frau im Rostocker Hafen), der Fluß, schwarz (ausgehend von Ober-Ochtenhausen), eine Eiche ohne Laub, das Schulhaus (Breddorf, aber nicht unser Wohnhaus, ich sehe eher die Wohnung des Hausmeisters im Schulhaus), eine alte Frau im Torfschuppen, mein Bruder mit Pudelmütze auf einer Beiwagen-Maschine (BMW). Die Vorstellung von dem Buch ist so konstant, daß ich an dessen Vollendung nicht zweifle. Die vielen Notizen stören mich übrigens fast, eigentliche Quelle ist die Ahnung, die pulsiert wie ein Lebewesen. Aus dem Sommer 1977 existieren sogar schon drei Kapitel, in Essen, im Hotel geschrieben, als ich dort vor sieben Zuhörern meine Poetik-Vorlesungen hielt.
     
    Ein Buch über Emigranten in Hollywood. - Goncourt,«Belagerung von Paris».
     
    Die Katholiken begehen heute - wenn sie ihn denn begehen - den Tag des Bavo ( †654 ) , der anfänglich ein lasterhaftes Leben führte, dann aber seine Habe verschenkte und als Einsiedler in einem hohlen Baum lebte, mit einem Stein als Kopfkissen.

Nartum
Mo 2. Oktober 1989
    Bild: Welch ein Tag für Deutschland!
    ND: Volksrepublik China feierte den 40. Jahrestag ihrer Gründung / 2000 km Bahnstrecke wurden seit 1981 elektrifiziert
     
    In der Nacht noch TV geguckt, die Ossis angesehen. Unglaublich. Es sind 7000, und aus Ungarn kommen täglich 700. Auf den Bahnhöfen begeisterte Menschen. Ein weinender älterer Herr aus

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