Alkor - Tagebuch 1989

zerrüttete«Fleisch»anderen zur Nahrung werden läßt?
     
    Das Nachklingen der Träume, ein Wasserschleier feinster Tropfen - und draußen kreist eine Krähe über den Hühnern. Die Fahne knallt, Spatzen und ein tätiges Rumoren im Haus, ein Wasserhahn wird aufgedreht. Noch sind die Augen schwer, die Lider sollen noch geschlossen bleiben. Alte Bilder ziehen auf, die Pumpe in Breddorf. Wir wußten mit den drei Kellerräumen nichts anzufangen. Ich sammelte Truhen und Bauernhausrat und richtete eine Bauernstube ein, Spinnen nisteten dort; tote Fliegen. Wenn man den Sicherheits-Lichtschalter drehte …, das Licht kam aus einem vergitterten Glas.
    Man habe keine Überreste von Menschen gesehen, sagten die Leute, die sich die Titanic mit einem Unterwassergerät ansahen.
«Echolot»: Die KZ-Sachen an den Schluß jeden Tages stellen. Das hatte ich schon vorgehabt, es war mir entfallen. Mit Hitler beginnen, mit Auschwitz enden. - Heutzutage spielt das Spritzen eine andere Rolle.
    Nochmal langmachen. Der Tag liegt da wie ein schlafender Körper. Ganz unten am großen Zeh: der Abend, auf den sich alles zubewegen wird. Gedanken ans Fernsehen in der dunklen Stube. Das Glas mit Lakritze. - Der Leuchtturm in Warnemünde, gestreift. - Belag auf der Zunge.
    Abends: Herrlicher Sonnenuntergang. Ich werde einen Sonnenuntergangs-Aussichtspunkt bauen. Am Ende der Allee, mit Dach. Wie ein Jägerstand. Er wird Ähnlichkeit haben mit den Türmen an der Zonengrenze. - Hildegard meint, sie sei sicher, daß ich sie im Vergreisungsfall ausgezeichnet versorgen würde, Pi-Pott wegtragen usw. Sie spricht öfter davon. Vielleicht tröstet sie diese Vorstellung für manches Unleidige, das von mir ausgeht.
    Lesung in Worpswede, im Weißen Saal der Barkenhoff-Stiftung. Landschaftsverband der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden lud ein. Fragen zur Literatur: Was macht Ihr Bruder?
    Wie ein Schriftsteller seinen Tag verbringt, wollte einer wissen. Strohhut auf und Whisky trinken.«Alles frei erfunden», das interessiert die Leute auch immer brennend. Ich habe diese Frage schon 27 000mal beantwortet.
    23 Uhr im aufgeklopften Bett. Zettel liegt auf dem Nachtschrank: Gute Nacht, Liebster.
    Der Hund des Nachbarn bellt ins Beethoven-Septett hinein. Es ist nichts mit der lauen Septembernacht. Pille und Ohropax.

Unterwegs
Sa 30. September 1989
    Bild: Herr Gorbatschow, beenden Sie das Elend!
    ND: In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und China Seite an Seite/Herzliche Gratulation der DDR an das chinesische Brudervolk

     
    6.14 Uhr. - Augen und Mund verklebt, vom Weinen?
    In der Nacht dürfen die Deutschen in Prag ausreisen, man schätzt, daß es 7000 sind. Genscher trat auf den Balkon, Scheinwerfer, Gemurmel, und in die allmählich eintretende Stille hinein schrie eine Frau. - Es war bewegend! Tränen kamen ganz automatisch. Es ist alles in fluß. Was noch vor ein paar Monaten undenkbar war, jetzt geschieht’s. In den DDR-Nachrichten sprechen sie von Menschenhandel. Axen oder wie der heißt, der Kleine mit den Glubschaugen. Mich wundert, daß von Radio und Fernsehen keine Sondersendungen … Das gehen die hier ganz locker an. - Einige Bilder aus dem Lager, weinende Menschen, die sich in die Arme fallen. Aber auch Leute, die sich sofort ins Auto setzen - und ab geht’s, junge Leute auf Moped. Kein Foto aus dem Inneren des Botschaftsgebäudes. Hätte gern gewußt, wie sich die Flüchtlinge dort einrichteten. Die Hoffnungsraserei. Ähnlichkeiten mit der Entlassungseuphorie in Bautzen 1954. Der Schock, als ich damals zurückbleiben mußte. Rechnung über Hühner- und Katzenfutter: 73 Mark.
    Vor fünf Jahren schloß ich die Chronik ab. Ich sah mir heute ein paar Kritiken an. Evangelische Kritiker sind besonders gehässig, das ist mir schon aufgefallen.
    Daß das Deutsche Museum für Geschichte in Berlin von einem Italiener gebaut wird, ist wider die Natur, da können sie nun sagen was sie wollen.
    Im Münchner Hauptbahnhof ein Zeitungskiosk:«Ich möchte eine FAZ.»-«Wir haben nur ausländische Zeitungen.»(Das gibt’s auch nur in Deutschland). - Umständliche Gepäckkarren-Ordnung: Koffer reinschleppen, Karren angekettet, kein Markstück in der Tasche, also Zeitung kaufen (100 Meter schleppen), anderer Kiosk, mit dem Markstück zu den Karren, eine rausgerissen, zum Bahnsteig, zum Zug, Koffer rein, wieder raus, Karre … weg. Das neue System für Gepäckkarren, schikanös und umständlich.
    Das Mysterium des Schreibens ist an einer Druckmaschine zu