Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
vergöttert ihren HAP Grieshaber auf sonderbare Weise.«Pfauenschrei», ein originelles Buch. Wahrscheinlich das beste, das sie geschrieben hat, ihre Lebensleistung. Viel DDR kommt darin vor, die gingen da drüben aus und ein. - Sie ist, glaub’ ich, ein bißchen verrückt?«Wie wir alle, mein Herr.»
    Erst die Abweichungen von der Norm machen uns kenntlich.
    In diesen schönen Septembertagen wächst die Sehnsucht, an der Ostsee zu sitzen. Eine einzige ruhige Stunde würde schon genügen. Kleine schwappende Wellen, ausgewaschene Buhnenpfähle, vertrocknende Quallen. Warnemünde 1936, die Caféhäuser auf der Promenade. Man müßte sich an den Strand setzen und aus einem Taschentonbandgerät den Schlager«Ich tanze mit dir in den Himmel hinein …»abspielen, dann wäre man drin im Vergangenheitsraum.
    Kempka gelesen, der Chauffeur des Führers, allerlei angekreuzt fürs«Echolot». Wie er sich über den toten Hitler beugt, im Garten, und ihm dessen grau gewordenen Haare ins Gesicht wehen...

Nartum
Do 28. September 1989
    Bild: Eltern, paßt auf/Todesdrogen in Micky-Maus-Bildchen
    ND: Führende Politiker kommen zum 40. Jahrestag der DDR/ Inbetriebnahme neuer Anlagen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität
     
    Wie sich einer das Kreuz auskugelt, weil er nachts im Liegen unter sich die Pyjamajacke glattstreichen will.
    Mußte heute mal einen Stop einlegen, arbeitete an der Kugelbahn II, die nun wieder«heil»ist.

    Viel Post, aber keine Anmeldungen zum Seminar. Es wird wohl ausfallen. Renate ist da. Sie wird nun schon 27! Nicht zu fassen. Als ich 27 war, wurde die Nummer 186 B entlassen.
    Ich finde es tragisch, daß es Menschen gibt, die sich für so eine Scheiße wie den Kommunismus aufgeopfert haben. Aber: Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen. - Immer noch besser, als vor Stalingrad gefallen zu sein.
    Canetti,«Provinz des Menschen». Im Mai 1945 schrieb er:«Man kann nicht atmen, alles ist voller Sieg.»Und:
    Die Leiden der Juden waren eine Institution geworden, aber sie hat sich überlebt. Die Menschen wollen nichts mehr davon hören. Mit Staunen haben sie davon Kenntnis genommen, daß man die Juden ausrotten könnte; sie verachten, ohne es vielleicht selber zu merken, die Juden jetzt aus einem neuen Grund. Gas ist in diesem Krieg verwendet worden, aber nur gegen die Juden, und sie waren hilflos. Dagegen hat auch das Geld, das ihnen früher Macht gab, nichts vermocht. Sie sind zu Sklaven, dann zu Vieh, dann zu Ungeziefer degradiert worden. Die Degradierung ist gelungen; bei den anderen, die es vernommen haben, werden die Spuren davon schwerer zu verwischen sein als bei den Juden selbst. Jeder Akt der Macht ist zweischneidig; jede Erniedrigung steigert die Lust dessen, der sich überhebt, und steckt andere an, die sich ebensogern überheben möchten. Die sehr alte Geschichte der Beziehung anderer Menschen zu Juden hat sich grundlegend verändert. Man verabscheut sie nicht weniger; aber man fürchtet sie nicht mehr. Aus diesem Grund können die Juden keinen größeren Fehler begehen, als die Klagen fortzusetzen, in denen sie Meister waren und zu denen sie jetzt mehr als je Anlaß haben.
    Spaziergang ins sonnige Septemberland. Danach die Schicksalsposaune:«Echolot». Die Toten trotten dahin, sie heben ihre Hand und grüßen herüber.
    Heute kamen zwei Mädchen aus dem Dorf, sie wollten Briefmarken haben. Ich fragte, ob sie schielen könnten. Sie konnten. Und wie! - Folglich bekamen sie Briefmarken. Was mache ich, wenn sie noch einmal kommen? Nochmals schielen lassen? - Ohren wackeln? - Ich werde sie fragen, ob sie den Mund halten können.

    Im TV: Eine Sendung über den Bürgerkrieg in China, 1949, drei, vier Kommunisten, Jünglinge, werden auf die Straße gestoßen und in den Kopf geschossen.

Nartum
Fr 29. September 1989
    Bild: Eltern organisieren sich/Dealer weg vom Schulhof/Die Eingeschlossenen von Prag /Sie weinen und frieren/4 Toiletten für 2800 Menschen/3 in einem Bett /Sie schlafen schichtweise /Die ersten Kinder krank / Seuchengefahr
    ND: Hohe Ehrungen für vorbildliche Leistungen von Kollektiven
     
    T: Geträumte Vertonung von«Der Mond ist aufgegangen»: Ich träumte den ganzen Choral als dissonante Chorkomposition verschiedener Choräle gleichzeitig: oben stereotyp«Jesus Christus»synkopiert (pp), in der Mitte (Alt) den Choral, unten Männerstimmen die Einsetzungsworte (f).
    Irgendwie hat das zu tun mit dem Archivmaterial, das ich nach Hannover bringen will. Daß man das durch Leid

Weitere Kostenlose Bücher