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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Klappert auf die Schrägfenster. Angenehm. Da dreht man sich gleich noch einmal um im Bett.
    ZDF: In Leipzig 120 000 Menschen auf der Straße. Auch in Halle, Dresden, Leipzig und Ost-Berlin. -«Wie in Dresden über Demokratie gestritten wird.»Ein Bericht von Büssem, ZDF-Spezial über den Vortag. Schüchterne, verstohlen lächelnde Demonstranten im Licht der TV-Scheinwerfer gehen doch lieber etwas zur Seite, nicht wahr? Ein Klinikchef in geschmeidigem Sächsisch, fordert u. a. Übergang zur konvertierbaren Währung, Aufgabe des Machtmonopols der SED (Riesen-Applaus), Verzicht auf alleinigen Wahrheitsanspruch.
    Stadtverordnetenversammlung in Dresden, Sondersendung, mit Vertretern der Opposition. Oberbürgermeister Berghofer meint, es wird nicht mehr alles einstimmig entschieden per Handheben: Es lebt sich besser mit Kritik als mit Schönfärberei. CDU-Mann will nicht mehr im Block arbeiten. Es wird Zeit, Kamerad, daß
du dich absetzt. Ein Mann der Gruppe der 20: Fragt, mit welchem Recht wurden wir eigentlich bevormundet? Ein FDGB-Mann lehnt die Entwicklung ab, erhält keinen Applaus. Ein CDU-Mann: Wieso die Gewerkschaft nie dabei, wenn Bürger demonstrieren. Auf der Prager Straße, als es kritisch war, Vertreter der Kirchen anwesend, aber: Wo waren Vertreter der Gewerkschaft?
    Der westdeutsche Kommentator: Ein richtiges Parlamentserlebnis! Ein Staatsanwalt über verbrecherische Gewaltaktionen in den ersten Oktobertagen in Dresden (3.-7. 10.): Aus Massenversammlungen heraus begingen Rowdies Gewalttaten. Verwüsteten Einrichtungen. Die Beschimpfungen hätten bis zur Mordhetze gereicht:«Ihr Kommunistenschweine.»-«Wir wollen eine grüne Leiche sehen!»-«Bullenschweine, wir hängen euch auf!»Ordnungskräfte seien mit Schottersteinen, Flaschen und Bauklammern beworfen worden, Fahnen heruntergerissen und verbrannt sowie Zerstörungen von Sachwerten begangen! 1303 Personen seien polizeilich zugeführt worden. Ein Superintendent übergibt Gedächtnisprotokolle der«Zugeführten». 170 Berichte über böse Übergriffe der Polizisten. Schaden durch planmäßigen Einsatz, Willkür und entwürdigende Behandlung. Schilderungen von Brutalitäten. Auf der Tribüne bekümmert guckende Schulmädchen in hellen Kleidern, liebe Gesichter. SED-Tante, sie sei Kommunistin seit ihrem 18.«Läbensjahr, und das werd’ ich auch bleiben», aber sie verlangt, daß solche Kader entfernt werden. Das schöne Sächsisch dieser Leute.
    Dann Menschenmassen unter freiem Himmel. Menschen treten vors Mikrophon, helle Köpfe vor schwarzer Nacht: Das überalterte ZK. Krenz, der sei wenigstens jung …, sagt der Kommentator. Pfiffe. - Modrow dankt dem Herrgott, daß es nicht regnet. Einfache Leute treten ans Mikrophon und dürfen was sagen. Die Preisexplosion der Schrankwände wird beklagt, einer verlangt Entfernung des Schwarzen Kanals. Einer sagt, er will sich nicht kurz fassen, denn«wir haben 40 Jahre nichts zu sagen gehabt! »Manche stottern angesichts der vielen Menschen was vom Papier herunter, andere entwickeln demagogische Fähigkeiten.

    Erich ist weg,
Egon kann geh’n
wir woll’n eine
neue Regierung seh’n!!!
    Die Leute haben offensichtlich keine Angst. - Danach auf breiter Front Demonstrationszug, irres Licht, Kerzen beleuchten die Menschen von unten. Transparente:«Egon ist nicht unser Mann!»
    «Freie Wahlen! Freie Wahlen!»rufen sie. Vorsichtig Lachende, trauen sich noch nicht so recht.«Wir sind das Volk.»Mikrophon zu niedrig, man hört nur drei Leute. Schnitzler weg! Die Kerzen haben etwas von einer Wallfahrt an sich. Gute junge Gesichter, wenig ältere Leute dabei.

Nartum
Sa 28. Oktober 1989
    Bild: Überall Zank und Streit / Unheimliche Sonnenstrahlen
    ND: Werner Krolikowski vor Wissenschaftlern und Studenten: Vertrauen schließt Mitsprache und Mitarbeit aller Bürger ein
     
    Spaziergang durch die aufglühenden Ahornhecken. Milde Luft. Mein Haar weht nach vorn, und ich finde es schade, daß das niemand sieht.
    Äußerst interessant: Mit der DDR geht’s Tag für Tag weiter voran, d. h. bergab. Gestern Bericht über Dresden. Versammlung in einem Saal, um den Knüppeleinsatz der Polizei geht es, braves Für und Wider. Der Staatsanwalt, eine Kommunistin und ein FdGB-Mensch versuchten, Kurs zu halten, andere gaben (gemäßigt) Zunder. Die SED steht mit ihrer Lügerei absolut im Regen, es geht nicht weiter, die Macht zerbröckelt. Und so wird’s kommen: Andere politische Gruppierungen (Parteien) werden zugelassen, freie Wahlen,

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