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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Wiedervereinigung.
    Das alles wäre in zwei, drei Jahren denkbar.

    Merkwürdigerweise ist schon gerufen worden:«Mauer weg und freie Wahlen!»doch das Wort«Wiedervereinigung»ist noch nicht gefallen. Dabei stimmen die«Ausreiser»ja tatsächlich für eine Wiedervereinigung. Und heute ist die Zahl der noch nicht bearbeiteten Ausreiseanträge verraten worden: 747 000! - Das ist doch die Wiedervereinigung. Ach, wie ich das ersehne.
    Das Selbstbewußtsein der Fordernden.
    Etliche Anpasser scheren schon aus der SED aus. Ein bißchen tragisch sind die Uralt-Politiker. Hager ist besonders widerwärtig. Unbeugsam-starrsinnig. Studienratstype, der einem eine Sechs für den Aufsatz gibt: Thema verfehlt. Ein Reporter stoppte ihn in Wandlitz beim Spazierengehen. Er wolle nicht zum dritten Mal ins Exil gehen, hat er gesagt.
    Heute haben sie beschlossen, daß jeder Bürger einen Paß haben soll und 30 Tage in den Westen reisen darf pro Jahr. Daß sie bisher keine Pässe hatten, wird hier wohl auch nicht jedermann wissen. Das Ausmaß der Lügerei und des Betrugs scheint erst jetzt allen Beteiligten klar zu werden. Ein Volk der buddhistischen Affen. Sie wollten nichts hören, sehen, sprechen.
    Ewige Schande über die Politiker hier im Westen, die überall Unrecht sahen, doch mit den Oberen von drüben sich verbrüderten. - Die«Ostverträge»waren eben doch verkehrt.«Echolot»: Ich gab heute allerhand für den 10. Februar 1943 ein. Lord Alanbrooke warnt vor Übereilung bei der Besetzung von Sizilien. Kuby hat irgendwelche unvorsichtigen Äußerungen von sich gegeben und kann nicht schlafen.
    Gebratene Steinpilze. Als Kind habe ich mir mal eine Magenverstimmung geholt davon. So was vergißt man nicht.

Nartum
So 29. Oktober 1989
    Welt am Sonntag: SED genehmigt Millionen-Demo in der DDR / Neue DDR-Oppositionsbewegung/Gewerkschaftschef Tisch muß um sein Amt kämpfen
    Sonntag: Reden allein genügt nicht. Von Klaus Lenk

    KF ist da. Ich möchte immer bei ihnen da unten sitzen, aber es zieht mich zu meiner Arbeit. Und wenn ich arbeite, zieht es mich zu ihnen.
    Als ich das Manuskript von«Uns geht’s ja noch gold»abschloß, ließ ich die Kinder den letzten Buchstaben tippen und den Punkt. Das ist nun ich weiß nicht wieviel Jahre her, und sie erinnern sich nicht mehr daran. Sie wissen nur, daß ich ab und zu um Ruhe bat.
    Die Linken hier sind baff, ihre schöne DDR! Ihre bessere Welt! Ihr Arbeiterparadies! Die SPD fordert, daß die Übersiedlung in den Westen per Gesetz erschwert wird (Körting). Denen sind Asylsuchende aus südlichen Ländern willkommener als die Landsleute aus der DDR. Auf einmal wollen die Grünen unterscheiden zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Politischen: Und das ließen sie doch bei Asylanten nicht gelten. - Maron:«Die andere Republik hat in der Szene lange Zeit als eine Art Laborversuch gegolten.»Die Linke habe an der DDR manches akzeptiert, was sie sich«hier keinen Tag lang hätte gefallen lassen»(«Spiegel»).
    Heute wieder Auflauf in Ost-Berlin, vor dem Rathaus. Man muß die flehenden Gesichter der Funktionäre gesehen haben. Auch Kant hatte sich dazwischengemischt, der denkt, er kann sich jetzt auf das schlechte Gedächtnis der Menschheit verlassen. Normalerweise funktioniert das ja auch. Aber er hat’s doch wohl etwas schlimm getrieben.
    Hermlin gestern in einer Kirche (pathetisch):«Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen: Ich stehe auf Ihrer Seite!»Und die Idioten klatschen auch noch! - Auch Christa Wolf hat was abgelassen, aber vorsichtig verklausuliert. Steht im Hintertürchen. - Der Berliner Polizeipräsident hat öffentlich die Massen um Entschuldigung gebeten. Kitschig, so was! - Die Massen sind erstaunlich zahm.
    Täglich vier, fünf Stunden Arbeit am«Echolot»: die Erlebnisse der Schülerin Ehlers, 1948.

Nartum
Mo 30. Oktober 1989
    Bild: Ost-Berlin: 20 000 riefen:«Reißt die Mauer ab!»/Grippe!/ Deutscher Super-Manager tot
    ND: «Sonntagsgespräche»in der Hauptstadt begonnen
     
    Gestern im TV Hitlers schwammiges Gesicht - Autobahneröffnung und Besichtigung von Linz. Sie hatten den Film langsamer ablaufen lassen (nicht Zeitlupe), was der Sache etwas Verwischtes gab. Natürlich mußten sie die Geräusche nachsynchronisieren, was jeder Mensch merkt. Authentizität dadurch gestört. Am Straßenrand Passanten, ein Herr mit Melone, der mit erhobenem Arm grüßt.
    Heute früh im Radio: daß die sowjetische KP nichts gegen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hat. Also, wenn das

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