Alkor - Tagebuch 1989
Schweine-braten, Schokoladen-pudding, Sahne-eis immer sehr wirksam. Auch die Studenten heute waren geradezu gierig bei der Sache. Man konnte beobachten, daß ihnen das Wasser im Munde zusammenlief. Aber besabbert haben sie sich nicht.
Nach Kebab und Teigröllchen beim Türken das Literarische Seminar: die eidetischen Phänomene. Also: bildliches Erinnern. (Sie verstehen nicht, was ich meine, und dabei ist es doch so einfach. Es ist der Schlüssel zu allem.) Plankton gefischt, das rettete den Tag.
In Berlin ist ein junger Mann auf die Idee gekommen, gegen Geld die Lebensgeschichte älterer Menschen aufzuschreiben: Konkurrenz? Er tut es nicht aus kommerziellen Gründen oder zu wissenschaftlichen Zwecken, sondern nur für die Leute selbst, hat großen Zulauf («Spiegel»).
Ein Kaffee-Importmann gestand mir, er sei 68er, mit Dutschke habe er demonstriert. Er stehe heute noch dazu. - Anstatt den Mund zu halten über diese Dummheit!
Heute gedenken die Katholiken der heiligen Martina - wenn sie denn ihrer gedenken -, die gegeißelt, mit Haken gerissen und den wilden Tieren vorgeworfen wurde, schließlich enthauptet, um ihres Glaubens willen.
Nartum
Di 31. Januar 1989
Bild: Momper: Ich will Regierender werden / Diepgen: Ich klebe nicht an meinem Stuhl / In Bonn wackelt die Wand / 12 000 bei Ku’damm-Demo / Republikaner Schönhuber - ein Haus in der Türkei
ND: Erich Honecker trifft Clodomiro Almeyda / Mit hohen Leistungen bereiten Pädagogen ihren Kongreß vor
In der Nacht arbeitete ich noch im Archiv, besah meine Schätze. Hildegard kam dazu, und ich zeigte ihr die«Echolot»-Bestände. Der Computer sei ihr unheimlich, sagte sie.
Im Radio stellte Ginka Steinwachs«ihre Schallplatten»vor. Sie gehörte 1958 zu meinem Hörspielkreis in Göttingen, in dem wir mit Hartmut Stanke (jetzt Schauspieler in Dortmund) und anderen«Draußen vor der Tür»aufs Tonband sprachen, mit einer Waschbalge voll Wasser (Elbe) und Militärmärschen vom Grammophon. Ich bin ein bißchen traurig, daß sie sich nie wieder gemeldet hat. Aber gut, denn möglicherweise hat sie einen Fimmel.
Dorfroman: Das Kummervolle an dieser Gegend ist, daß hier vom 15. Oktober bis zum 15. April stets dasselbe Wetter herrscht. Grau in Grau. Das kann einem weiß Gott die Lebensfreude nehmen.
Über hundert Krähen auf der Wiese hinterm Haus:«Was sind das für Vögel?»fragen die Leute.
Eine Frau im Seminar wollte nicht glauben, daß es Nächte gibt, in denen der Mond nicht zu sehen ist. Eine andere bezeichnete den Jupiter als Trabanten des Mondes.
Heute früh fuhr ich zum Sammlermarkt. Ich guckte mir die Leute an, meist konservative Typen, Mittelstand, schweigende Mehrheit. Auch Ehefrauen, vom Mann angesteckt. Briefmarken, Münzen. Bei den Ansichtskartenverkäufern stehen die Heimatlosen: Preußisch Eylau, Hirschberg verlangen sie. Und ich gehörte zu ihnen und kaufte wieder einmal Rostock, man sollt’s nicht für möglich halten.
Der Nachmittag verlief höchst harmonisch, mit sich allein in dem großen Haus, da tuckern die Gedanken.
Ein Mensch zu sein, von dem man sagt: Der ist nett. Manchmal denke ich: Ich werde mich ab morgen verlottern lassen, überhaupt nicht mehr rasieren und Hausschuhe tragen. Dann wieder: Sei
ein Herr! Trage einen Schlips und rasiere dich! Wie sollen sonst die Leute vor dir Respekt haben?
Der Tod löscht die Erinnerungen, die Bilder aller Menschen aus. Das ist wie das Abräumen eines Schachbrettes. Dagegen anzuschreiben nützt nichts.
Aus den Fotos von damals spricht etwas zu uns. Sie sind Todeszeugnisse, sie nehmen den Tod vorweg.
Jeder Griff zu Pillen ist naheliegend.
Obstsalat mit Schlagsahne.
Mittags Spaghetti mit Bratensauce.
Februar 1989
Nartum
Mi 1. Februar 1989
Bild: Ski-WM / Prinz Alfonso im Ziel geköpft
ND: Begegnung Erich Honeckers mit Ministerpräsident Björn Engholm
Träume, die sich uns entziehen, sind wie goldene Taler, die man ins Wasser wirft.
Eine Gruppe Menschen marschierte in größerem Abstand um unser Haus herum, ich beobachtete sie mit dem Fernglas. Ihre hellen Gesichter. Ab und zu verschwanden sie hinter den Bäumen, ich wartete, bis sie wieder zu sehen waren. Ich stellte mir vor, sie seien mit einer Schnur an unser Haus gebunden, und sie würden immer wieder um das Haus herumgehen und uns einspinnen. - Eine Gummischnur, die uns die Luft nimmt.
Für diese Menschen bin ich eine lebende Gesamtausgabe mit Haus und Bett. Aber vielleicht meinten sie ja auch gar nicht den Autor
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