Alkor - Tagebuch 1989
freigelassen.
Ob Mielke sich jetzt in einer stillen Stunde mal all seine Orden anguckt?
Biermann hat dem Kultusminister in der DDR eine Liste von 77 Schriftstellern übergeben, die nicht einreisen dürfen in die DDR. Ob mein Name darunter war?
2000: Nein, er war nicht darunter.
Aus dem polnischen Außenministerium ist zu hören:«Die Vertreibung der Deutschen aus Polen verlief 1945 / 46 geordnet und so humanitär, wie es unter damaligen Verhältnissen möglich war, unter alliierter Kontrolle und entsprechend den internationalen Vereinbarungen!»- Ich dachte eigentlich, in Polen hätte ein neues Denken«platzgegriffen»?
17 Uhr. - Eben kam die Nachricht, daß wir ab 1. Januar für die DDR kein Visum mehr benötigen. Das heißt also, die Einheit ist im Grunde genommen da. Denn was will man anderes, als hinüber und herüber. Im Januar werde ich also mit Robert nach Rostock fahren. Morgen telefoniere ich mit Hinstorff wegen einer Lesung Ende Januar. Vielleicht könnten wir ein kleines Rostock-Buch machen mit Ausschnitten aus meinen Büchern? Mit dem Abdruck der Chronik dort sollte man etwas zurückhaltend sein. Vielleicht lassen sie sich ja regulär verkaufen, dann brauchten sie gar nicht neu gedruckt zu werden. - Alles herrlich! Ich jauchze.
Es ist, als ob man träumt. Um mit meiner Mutter zu sprechen: Könnte es nun nicht immer so sein? - Am besten wäre es, ich mietete mir dort irgendwo in einem Dorf ein Zimmer. Vielleicht bei Läuter in Ahrenshoop? Und immer noch halten Vopos den Journalisten die Hand vor die Kamera.
Bremen, die Rostock-Partnerstadt, führt mit Rostock jetzt«Gespräche». Natürlich werde ich nicht dazugebeten.
In der«Tagesschau»auch Bilder von Stasi-Leuten und von Bürgern, die verlangen, in die Stasi-Häuser hineingelassen zu werden. Ein Staatsanwalt, der vorgestern noch kräftig mitgemischt hat, verriegelt die Panzerschränke (in denen sich vermutlich nichts mehr befindet). Auch Rechtsanwalt Vogel wurde verhaftet, wegen räuberischer Erpressung. Wenn jetzt Gorbatschow darauf besteht, daß Wiedervereinigung nicht möglich, ist das nicht sehr schlimm. Praktisch besteht sie ja ab 1. Januar 1990.
Habe beschlossen, Simone ab 1. Januar fest einzustellen im Hinblick auf das Großprojekt. Heute habe ich ihr gezeigt, wie man die Texte dialogisiert, was sie ziemlich sofort begriff mit ihrer schnellen Intelligenz.
Hildegard:«Was brauch’ ich zu rauchen, wenn jetzt die Wiedervereinigung kommt?»
Walser: Die Grenze sei blödsinnig und außerdem ein Produkt nicht des Krieges, sondern des Kalten Krieges.
Eben beim Friseur, neu eröffnet, alles weiß, lila, schräg-geschnittene Spiegel. Er fragte mich, wie mir das gefällt:«Die Musik ist zu laut, da kann ich mich nicht entspannen.»Er guckte durch mich hindurch (ich war der einzige Kunde). Er hatte es sich doch so schön ausgedacht! 35,-kostete der Spaß, aber geschnitten wurde ich gut.
Wieso hört man keine Walzer oder Operettenmelodien, die waren doch ganz hübsch. Ich würde auch ganz gern mal wieder einen Marsch hören.
TV: Winfried Scharlau, der süßliche«Weltspiegel»-Prinz, lange nicht gesehen. Eigenartig festgelegt in Gestik und Diktion.
Nartum
Mi 6. Dezember 1989
Bild: Die Honecker-Bande handelte mit Kokain
ND: DDR und BRD vereinbaren gemeinsamen Fonds für Reisezahlungsmittel
Heute wird des heiligen Nikolaus gedacht.
Nikolaus von Myra (von Bari), Heiliger. - Die bekannteste und am meisten dargestellte Legende gibt ihm als einzelner Gestalt das Attribut von drei Goldkugeln (Äpfel, auch Goldbarren); diese hat er - meist wird ein Fenster angedeutet - drei armen, oft schlafend im Bett liegenden Mädchen zugeworfen, die ihr Vater in ein Freudenhaus verkaufen wollte.
Häufiger steht neben der Gestalt des Nikolaus ein großer Bottich mit drei unbekleideten Knaben darin - es sind die von einem bösen Wirt zerstückelten Jünglinge, die er zum Leben erweckt.
Was hat der Märklin-Volkswagen, den ich am 6. Dezember 1942 in meinem Stiefel vorfand, mit dem Nikolaus zu tun? - Verhöre durch den Nikolaus hat man mir gottlob erspart in meiner Kindheit. Wir haben auch unsere Kinder damit verschont. Einmal kamen zwei Nachbarn, von links und rechts, zwei Nikoläuse also, die hat Hildegard hinausexpediert.
Krenz ist heute abserviert worden. Andere werden vor Gericht gestellt, auch Mielke geht’s an den Kragen. Gerüchte über Waffenexporte, Schiebereien usw. Saß den ganzen Tag am Radio. Mich wundert, daß andere so ganz
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