Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Tagesprogramm umfaßt: Reiten, Kutschieren, Baden in der Nordsee oder im Wellenbad in Busum, Wattlaufen, Wettkampf-, Ball- und Gesellschaftsspiele. Höhepunkte sind Lagerfeuer, Lampionfahrten, Laienspiele, zeitweilige Autorenlesungen für Kinder und Begegnung mit Schriftstellern.
    Unsereiner spielte als Kind mit einem Brummkreisel. Ab und zu kam ein Auto vorüber. Nichts ist mir ekelhafter als Reiter zu sehen. Dieses Gängeln der Kreatur! Unästhetisch, widerlich. Bei Mädchen mag’s noch hingehen.
    Er fragte mich: Warum kommst du nicht einfach mal vorbei? - Von Nartum bis zu ihm, das sind drei Autostunden. Irgendwann zu Pfingsten waren wir dann tatsächlich mal dort. Wir standen zwei Stunden auf der zugigen Diele herum und fuhren wieder nach Hause. Bei dieser Gelegenheit lernte ich übrigens Albrecht Knaus kennen, das muß so 1976 gewesen sein, braungebrannt, mit Lederjäckchen.

    Die heilige Dorothea wurde in wallendem Öl gefoltert. Als auch ein gütliches Beschwören des Richters nichts vermochte, ließ er sie mit den Füßen an das«Folterpferd»hängen, geißeln, die Brüste mit Fackeln brennen und schließlich enthaupten.
    Dies alles ließen sich die Menschen antun ihrer Überzeugung wegen.

Nartum
Di 7. Februar 1989
    Bild: BfA-Präsident: 6,5 Millionen verschleudert?
    ND: Dynamische Leistungsentwicklung der Volkswirtschaft im Januar
     
    Wind ums Haus. Das sind die verspäteten wilden Heerscharen.
    «Der Nachtwindhund weint wie ein Kind, dieweil sein Fell von Regen rinnt.»
    Ich verzichtete auf meine Spaziergangsrunden und setzte mich an den Computer. Die Speicher füllen sich ganz allmählich wie Bienenwaben.
    Frau Brenk hat Angst vor Mäusen. Neulich hätten drei auf der Kellertreppe gesessen und sie angeguckt. Der Nachbar habe gemeint, das seien Erdschnüffler. Dabei gäb’s die doch gar nicht. Hildegard meint, nach der Beschreibung müßten das nützliche Spitzmäuse gewesen sein. - Frau Pfeifenbring, so wurde berichtet, mache sich nichts aus Mäusen.«Wenn ich nachts das Licht anmache (die Nachttischlampe anknipse), dann huschen da immer Mäuse weg!»- Frau Brenk:«Hu!»Spinnen könne sie ab, aber keine Mäuse. Ich meine, im Schlafzimmer brauchen sie ja nicht gerade herumzulaufen.
    Heute morgen war ich in Gyhum und ließ mich massieren. Ich sollte meinen Arm auf ihrem Oberschenkel deponieren. Ich fand das anstößig.

Nartum
Mi 8. Februar 1989
    Bild: 35 Schlaftabletten / Björn Borg Selbstmordversuch
    ND: Dank Gorbatschows an die Bürger der DDR / Für die freundschaftliche Anteilnahme und brüderliche Hilfe im Zusammenhang mit der Tragödie des fürchterlichen Erdbebens in der Armenischen SSR / Über 260 000 Kandidaten werden von ihren Arbeitskollektiven geprüft / Vorbereitung der Kommunalwahlen
     
    In fünf Jahren täglichen Trainings habe ich es nun so weit gebracht, daß ich mit den Fußzehen alles vom Boden aufheben kann. Wäsche ohne weiteres, schwieriger schon Zeitungen oder meinen Kamm. Den Kamm schiebe ich dann bis an den Rand der Treppe, lasse ihn halb überstehen und greife sodann mit den Zehen zu. Hierbei ist die große Zehe absolut unentbehrlich. Stelle mir vor, ich träte in einer Fernsehshow auf.«Wetten daß», oder so.
    Der Herbst mit seinen vielen Lesungen versinkt allmählich, ich kann mich kaum noch an Einzelheiten erinnern. Irgendwo wurde ich von dem Gastgeber in seiner Einführung als«Knacki»vorgestellt. So was bleibt haften.
    Zwei Anhalter auf der Nachhausefahrt, nein danke, sie wollen lieber ein Auto nehmen, das sie ganz nach Hamburg bringt. - Nächstens sagen sie noch: Nein danke, wir fahren nur Mercedes. Hose gekauft.
    Ich:«Das ist ja eine Kellnerhose …»
    Verkäuferin:«Mir ist ganz egal, wie Sie diese Hose bezeichnen.»Alles ist so weit weg: Fechner mit seinem Kampf und Krampf, Raddatz mit seinen kalkulierten Frechheiten, die Kinder als Babys, um Hilfe schreiend. Und die kranke Frau nebenan. Das finstere Breddorf mit Klaus Beck, und Göttingen mit den Jungen. Da taucht so manches auf. Das nach Senoussi riechende Zimmer meiner Mutter in Altona. Saal 3 in Bautzen: Das Ave verum - und dann lange nichts, dann schiebt sich Helga Feddersen dazwischen und die Seippel. Eine Weihnachtsszene ist noch sehr lebendig, 1935, die kleine Feldküche und das Wohlwollen
des Vaters, der Gang durch den Schnee zum Großvater. - Das Männlein-Spielen, ich bin immer noch ein Kind, spiele Mann. Existenzen: Krickeberg, der ein Karussell gebastelt hatte, das bin ich; Walter Görlitz und die

Weitere Kostenlose Bücher