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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Nachbarn Reisig. Auch so eine Landsache. Erinnert mich an Bad Sülze.
    Kuby:«Mein Krieg».

Nartum
Mi 8. März 1989
    Bild: Angst um Genscher/Sonnen-Explosion/Größter Ausbruch / So gefährlich ist sie für uns/Ozon-Loch/Prinz Charles an 124 Länder: Stoppt das Killer-Gas, sonst ist alles zu spät
    ND: ZK der SED zum Internationalen Frauentag 1989/Dank und Anerkennung allen Frauen und Mädchen der DDR / Große Initiativen und vielseitige Leistungen hervorgehoben

     
    Der gloriose Tag, 41 Jahre ist es her. Als ich eben dran dachte, sah ich einen langen Güterzug durch die Landschaft klappern. Merkwürdig, daß ich mich spontan nur an den Tag der Verhaftung erinnere, nicht an den der Entlassung.
    «Im Block». Auch dieses Buch wolltet Ihr nicht lesen, liebe Leser. 700 Stück wurden verkauft. - Woran liegt es, daß ich mir meine Menschenfreundlichkeit erhalten habe?
     
    T (am Nachmittag): Daß ich zum«Dienst»muß. Ich krame meine Uniform hervor, zieh sie an. Da erinnere ich mich plötzlich, daß ich ja bald 60 Jahre alt bin! - Nee! sage ich zu mir, da gehst du nicht hin.
    Heute kam ein Paket mit Fotoalben aus Kempten vom Antik-Lädele. Ich habe es gleich wieder zurückgeschickt, weil nichtssagend und absolut rasend teuer … Was die Leute sich so einbilden?
    Als ich im Herbst dort war, hatte ich einen Packen Fotos gekauft und meine Adresse dagelassen.

Nartum
Do 9. März 1989
    Bild: Ballon-Flucht! Einer tot, wo ist Sabine?
ND: Der Sozialismus hat uns ein neues Leben erschlossen
     
    Büromaterial in Rotenburg. Zehn Mikrodisketten 195 DM. Der Hund bellt.
    Hildegard:«Klappe!»
    Ionesco: Aufsätze. Hervorragend. Hübsche Kritik an der Linken. Daraus wird deutlich, wieso er seit Jahren weder gespielt noch erwähnt wird. Nono, Boulez und Stockhausen als serielle Komponisten haben’s ja auch ziemlich toll getrieben. Goldschmidt blieb auf der Strecke, Henze setzte sich trotzdem durch. Daß so etwas in einer Demokratie möglich ist!

Nartum
Fr 10. März 1989
    Bild: Heroin/Jetzt sterben die Alt-Fixer/Ballonflucht: Das Drama über der Mauer/Sabine lebt
    ND: Kräftiges Leistungswachstum durch Einsatz der Schlüsseltechnologien
     
    4 Uhr früh. - Die Lebenspause: von 1948-1956. Das große Einatmen (bei zugehaltener Nase). Wer hat mich in all den Jahren genährt, und wer hat meine Blöße bedeckt?
    Krank, Leibschmerzen, Fieber. Liege mit Heizkissen im Bett und dämmere vor mich hin.
    Ich nahm mir von Hauser das«Brackwasser»mit nach oben. Ein sonderbar stimmungsvolles Buch. Hauser ist nur 53 Jahre alt geworden, er war im Krieg bei der«Frankfurter Zeitung»und nach dem Krieg beim«Stern». Thomas Mann hat über ihn abfällige Bemerkungen gemacht. Er habe ein Buch mit Heil-Gruß Hermann Göring gewidmet, nun ja.
    Knaus rief an, Kolbe hat abgedankt, nach acht Monaten:«Ohne Mantel und ohne Hut hat er den Verlag verlassen!»Paeschke ist an seine Stelle getreten. Das ist der fünfte Verlagsleiter innerhalb von zwei Jahren. Paeschke ist ein Verlagsverwalter, aber doch kein Verleger! Die Abfindung, die Kolbe bekommt, wird stattlich sein. - Nur gut, daß Bittel bleibt.
    In der Politik sieht’s gut aus. Die Russen lenken auf allen Gebieten ein. Warum nicht gleich so? Auf einmal geht’s. Die Abrüstungsverhandlungen schmorten doch schon seit Jahren. Oh, wie ich ihnen alles Schlechte wünsche! Und dabei würden die kleinen Leutchen dort mich auch an den Tisch bitten, wenn ich mit’m Fallschirm herunterkäme, und mir Salzkartoffeln und Kohl vorsetzen. - Unvergesslich der eine russische Posten, der mir mal Machorka in die Zelle reichte.
    Das«Echolot»macht Fortschritte. Wenn ich was Interessantes gefunden habe im Archiv, ein Tagebuch oder einen Brief, laufe ich herum und reibe mir die Hände. Lustgewinn durch Sammeln.

    Schlafe jetzt weiter.
    Eine Dame von der«Brigitte»kam um 10 Uhr. Ich schleppte mich nach unten. Sie schlenderte von Zimmer zu Zimmer, als müsse sie das Haus genehmigen. Ich wie ein Kastellan hinterher. Am Abend kamen Volkshochschulisten für drei Tage. Ich saß, inniglich auf Blähungen hoffend, unter ihnen.
    Als die Volkshochschulmenschen abends gegangen waren, noch lange ferngesehen, einen Auschwitz-Film. Merkwürdig der Gedanke, daß ich auf dem Höhepunkt der Judenvernichtung zur Klavierstunde ging. 1942 war das Jahr, in dem Rostock zerstört wurde. Höhere Gerechtigkeit, die niemand verstand. Gewußt habe ich von KZs, aber nicht von der Judenvernichtung. Das habe ich in letzter Konsequenz sogar erst nach

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