Alkor - Tagebuch 1989
(schlief darüber ein). Drei Jahre hat er daran gearbeitet.«Der erste Satz (Allegro vivace) ist eitel Daseinsfreude unter südlich blauem Himmel», im vierten Satz«hat sich der Tondichter mitten in das Leben und Treiben der Volksmenge hineingestürzt, alles ist südliches Temperament und ausgelassene Fröhlichkeit, kräftig marschartige Motive wirken wie ein sieghaftes Brechen eines jeglichen Widerstandes …»-laut Konzertbuch von 1926.
Ich nahm die Musik neben meinem Schlaf wahr, sie hob mich auf und ließ mich wieder niedergleiten. Irgendwann fand ich den Knopf. Aus.
Der Verleger ist irgendwie mit Mendelssohn verwandt. Das führt dazu, daß er ab und zu etwas einfließen läßt davon ins Gespräch, ohne indessen deutlicher zu werden. Eine Vetter des Urenkels zu sein … M.’s Vater haben sie wegen des Buckels mit Dreck beworfen und hinter ihm hergehöhnt.
Die Katholiken sollten sich heute an die heilige Kunigunde erinnern: Sie schritt unbeschadet über glühend gemachte Pflugeisen, um ihre Unschuld zu beweisen.
Nartum
Sa 4. März 1989
Bild: Spionage für den KGB/So ging das Hacker-Ding / Sohn von CDU-Chef erhängte sich
ND: Volkskammer der DDR beschloß Wahlrecht für ausländische Bürger zu Kommunalwahlen
T: Ich bin in Mexiko auf Urlaub in einem richtigen Touristenschuppen, schlafe in einer Art Kabine. In einer Ecke des Frühstückssaales, von Scheinwerfern beleuchtet, sitzen zehn deutsche Mädchen, gekleidet wie Gräser, und wiegen sich im Wind.
Starker Sturm ums Haus. Hildegard klagt über«Knochenschwäche», wie sie es ausdrückt.
Post: Jemand schickte in einem gelben Postkarton alle meine Bücher zum Signieren. Ich legte einen«Schulmeister»dazu, den hat er bestimmt noch nicht.
Choräle gespielt, von Jammer geschüttelt.«O Mensch, bewein’ dein’ Sünden groß …»Wir treiben unser Lebensspiel, und auf der Wand tanzen die Schatten.
In der Nacht noch Brahms’ 2. Symphonie.
Aus den verträumten Bergtälern des Schwarzwaldes und der lieblich frohen Romantik des Wörther Sees sog Brahms die Stimmungen, die ihm die Tonpoesien aus der musikquellenden Seele lockten. - Die rauhe Schale (Brahms’) enthielt in Wirklichkeit einen weichen Kern. In des norddeutschen Musikers Brust schlug ein echtes Herz …
Er selbst nennt die 2. sein«liebliches Ungeheuer». Ich gab mich diesem Ungeheuer hin. Der«klassische Klang». Und Sehnsucht, in diese Welt entfliehen zu können. Während ich die Symphonie hörte, las ich übrigens im«Spiegel».
«Zum Umblättern befeuchtete er die Finger an der Vagina seiner Frau.»Wo steht’s geschrieben? Henry Miller?
Come to me, my melancholy baby …
Feuerlöschmensch kam: Die Dinger, die hier schon seit Jahren stehen, sind entweder unwirksam, schädlich oder gefährlich. Wir sind offensichtlich Betrügern aufgesessen. Was ist das für eine Welt!
Nartum
So 5. März 1989
Welt am Sonntag: FDP-Chef Lambsdorff richtet schwere Angriffe gegen CDU/Folgen der Berlin-Wahl: Ströbele sieht«Jahrhundert-Chance»/Ditfurth droht mit Parteiaustritt
Sonntag: Unterhaltung. Ökonomie und Ästhetik, Gesprächsrunde zum Kongreß der Unterhaltungskunst
Wachgeworden durch den Zigarettenrauch eines Passanten. Jetzt beginnen einige wenige Vögel zu zwitschern. Ich weiß noch, was das in früheren Zeiten für ein Lärm war. Nicht spazierengegangen, da kalter, nasser Wind.
Post: Ein Herr schickte zwei russische Flugblätter und eine englische Rot-Kreuz-Mitteilungskarte, auf der der Gefangene ankreuzen kann, ob in Ordnung oder verwundet oder krank. Wenn ich abends vorm Insbettgehen noch einen Schluck Wasser nehme, denke ich an Mutter, die mich kurz vor ihrem Tod darum bat. Ich sollte das Wasser recht lange laufen lassen, sagte sie, sonst wäre es lauwarm. Ich ließ es sehr lange laufen, es wurde nicht kalt, vermutlich waren Heizungsrohre neben der Wasserleitung verlegt.
Hildegard sagt jetzt öfter: Den Stuhl nehme ich mit, wenn ich weggehe, oder: das Bild. Sie braucht zu ihrer«Emanzipation»die Konstruktion eines Fluchtweges. Sie will übrigens nur«sehr wenig mitnehmen», sich ganz reduzieren, bei Fintel wieder anfangen. Das kann ich nachvollziehen. Ich denke auch öfter, nach Göttingen zurückzugehen und alles hier aufzugeben.
Auf der Fahrt nach Bremen dachte ich bei den Schrebergartenhäusern: In so einer kleinen Flüchtlingsbude würdest du mit ihr auch leben können (und wollen).
Heute früh, wie gesagt, trieb es mich nach Bremen. Die armseligen Leute, die da
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