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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Wort her), die Hitze, das Finstere des Ortes. Sich die Finger nicht quetschen lassen. Von hier aus wird auch verständlich, weshalb ich«die Familie in den Dreck ziehe», um mich zu rächen, nämlich an meiner Mutter? - Das Leinentuch als Hungertuch, als Leichentuch. In Bautzen der Bettlakenhimmel, mit Sternen bestickt.
     
    2001: Siehe«Weltschmerz», S. 23.

Nartum
Do 6. April 1989
    Bild: 7 tote Mädchen/Ist er der Automörder?
    ND: Losungen des Zentralkomitees der SED zum 1. Mai 1989/ Michail Gorbatschow von Fidel Castro herzlich verabschiedet
     
    Neulich hieß es:«K. schreibt wie Surminski.»Das gefiel mir nicht. Es ist immer fatal, als Autor mit einem andern verglichen zu werden. Wenn sie sagen würden, er schreibt wie Thomas Mann, würde mich das auch stören, allerdings aus anderen Gründen. Dierks sagt, neuerdings komme Harig in meine Nähe, da müßt’ ich aufpassen! Unverständlich ist es, daß sie mich mit Jean Paul vergleichen. Oder mit Fallada! Das krieg’ ich immer wieder zu hören. Ich seh’ mich eher bei Dos Passos oder Gottfried Keller. Das«Echolot»sind meine«Wanderungen durch die Mark», es hat eine ähnliche Funktion, die der Unterfütterung und Vergewisserung.
    Benjamins«Passagen», Fontanes«Wanderungen», Gustav Freytags
«Ahnen»und das Prinzip, nach dem die Grimms ihre Märchen gesammelt haben.
    Auf West 3, das leider für mich nicht zu empfangen ist, wird der Hitchcock-Film«Im Schatten des Zweifels»gesendet. Die junge«Charly» rennt durch den Film, wogegen der Mörder, ihr Onkel Charly (Joseph Cotton), sich pathologisch langsam bewegt. Ein bißchen hat der Film mit dem«Tadellöser»gemein, die Dialoge sind von Thornton Wilder, die Nähe zu«Unsere kleine Stadt»spürt man. - Dieser Film und«Frenzy»und natürlich«Der unsichtbare Dritte». -«Der Fremde im Zug»ist mir etwas zu altmodisch. Ich werde ihn mir aber gelegentlich mal wieder ansehen. Eine meiner Hitchcock-Lieblingsszenen ist die Versteigerung in«Der unsichtbare Dritte».
    Eine Fotografin kam. Ob ich ein Buch von Sartre hätte, mit dem würde sie mich gern fotografieren.
    Ich breite meine Arme aus und lasse sie kraftlos fallen. Fliegen lernt man auf diese Weise nicht.
    Rinderhack mit Reis und Paprika. Eingemachte Birnen. Ein Glas Milch dazu. Es ist im Grunde genommen ja alles in Ordnung.

Nartum
Fr 7. April 1989
    Bild: «Er lebt mit einer Lebenslüge»/Schönhuber beleidigt Weizsäcker
    ND: Gespräch Günter Mittags in Bonn mit Oskar Lafontaine
     
    Im Garten blühen jetzt die höchst langweiligen Forsythien und hier und da die ebenso anödende Zier-Johannisbeere. Das junge Grün hängt dem Naturkavalier aus der Tasche.
    Post: Ein Herr aus Siegburg hat mir eine Auswahl von Briefen geschickt. Ein ziemliches Durcheinander. Er schreibt am 15. Juli 1948 aus russischer Gefangenschaft (Minsk) nach Hause:
    An meinem Geburtstag, den ich in nettem Kameradenkreis bei Kuchen mit Ei und Waldbeeren, echtem Bohnenkaffee, einer guten Zigarre in Gesundheit und Freude verlebe …
    Da hat es sich wohl um einen Praßnik gehandelt? Oder ist das ein Witz? - Bin zu schlapp, um mit ihm eine längere Korrespondenz zu beginnen. Ich bin darauf angewiesen, daß die Einsender mir das Material mundgerecht liefern, sonst werde ich verrückt. Ich:«Ich mag diese Würzpaste nicht.»
    Hildegard:«Das Prinzipielle deines Verhaltens kann man nicht akzeptieren als Frau. Das hat was mit Verachtung und Dummheit zu tun.»
    Eine alte Dame kam - mein Jahrgang! -, sie hat eine interessante Biographie, sagt sie, habe allerhand erlebt. Wie ich an den Film rangekommen wär’. Müßt’ man sich da melden? - Wenn ich ihr vorgeschlagen hätte, daß sie mir alles erzählt, und ich bring das in Form …, sie wäre darauf eingegangen. Und hinterher hätte sie mir den Rechtsanwalt geschickt und prozessiert, Urheberrecht und so was. Wie dumm! Wie dumm! Anstatt mit einer hübschen jungen Nichte zu kommen, mit wippendem Pferdeschwanz - da hätte man mit sich reden lassen, vielleicht . Daß man mit dem Schinken nach der Wurst schmeißen muß - davon haben diese Leute noch nichts gehört.
    Oh, wie bin ich bestechlich!
    Mal wieder in einem Kaffeehaus sitzen. Dafür würde ich mir das Rauchen wieder angewöhnen. Kaffeehauserinnerungen. Als es in Hamburgs City noch Cafés gab … Meist sind es Enttäuschungen, die einen in Kaffeehäusern erwarten. Kühlschranktorte. Plürrkaffee. Ganz weit zurückgehen, mit der Souffleuse vom Rostocker Stadttheater ins Café Herbst, wie ein

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