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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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eigentlich kein Mut. Sie fürchten, daß der magische Kontakt,«das Band der Liebe», ab- oder zerreißt. Es zerreißt eher, wenn es zu einer persönlichen Begegnung kommt. Sie stellen sich ihren Dichter anders vor.
    Der berühmte Fund auf dem Dachboden spielt immer noch eine große Rolle bei Archiv-Einsendungen, seltener: der Keller. Im Keller liegen höchstens mal Tote vergraben. Oder Münzen aus dem Dreißigjährigen Krieg.
    Manche Leute wollen detailliert Auskunft haben, wozu ich Tagebücher usw. suche, ich soll ihnen das mal ausführlich erklären.

    Da liegt der Verdacht nahe, daß es sich um versteckte Autographensammler handelt.
    «… Auch habe ich noch ein kleines Fotoalbum aus Leder. Die Fotos habe ich leider weggeworfen.»
    Es gibt auch Leute, die einem den Mund wässerig machen mit Ankündigungen - Koffer mit Tagebüchern -, und dann hört man nie wieder was davon. Das ist eine Spielart von Sadismus. Dorfroman: Ein Kater schleicht schon seit Tagen ums Haus, er hat’s auf unsere Graue abgesehen, die ihn nicht mag. Heute abend fehlte die Graue. In der Veranda lag der Kater auf der Bank mit wehleidigem Blick. Ich jagte ihn raus, aber er«klebte», zog das Bein nach, als sei er schwer verwundet! Was für ein schlaues Vieh! Ein Fall von Flucht in die Krankheit. Als ich ihn draußen hatte, kam die Graue reingestürmt und dankte mir auf ihre Art. Sie hatte Angst gehabt und sich nicht ins Haus getraut. Ein Mann rief an, er wollte Rat haben, seine Frau trinkt und ist nicht ganz normal, sie schlägt ihn jeden Tag. - Ich redete lange mit ihm. Tüchtig zurückschlagen, das mochte ich ihm nicht empfehlen. Eine kleine Prügelei kann ganz erfrischend sein.
    Wir saßen noch etwas zusammen, Rotwein, und hörten das dritte Streichquartett von Schumann. Literarisch gesprochen ist das ein immerwährendes: Weißt-du-noch? Es sei das mitreißendste der Schumann-Quartette, steht im Konzertführer. Mitreißend? - André Boucourechliev nennt die Einleitung«zärtlich-besinnlich». - 22. Juli 1842:«Das dritte Quartett fertig - Freude», schreibt Robert Schumann ins«Haushaltsbuch». Die drei Quartette hat er in knapp zwei Monaten geschrieben.
    Jede Musik ist ein: Weißt-du-noch. Aber das ist eben nicht immer angenehm, das Erinnern. Eine Literatur schreiben, die Musik fugal und realiter zitiert.
    So etwas wie gemeinsames Quartett-Spielen gibt es in der Literatur ja leider nicht. Ein polyphones Lesen ist unmöglich. Ich habe in Bautzen mal so was geschrieben, eine Art dreifache Gregorianik. Die Stimmen konnten sich einmischen, wann sie wollten, und sich auch plötzlich herauswinden. Also kein Kanon. - Gemeinsam Dramen lesen, das ist nicht mein Fall.

    In Camus’«Sisyphos»gelesen:
    Ein Selbstmord kann vielerlei Ursachen haben, und im allgemeinen sind die sichtbarsten nicht eben die wirksamsten gewesen. Ein Selbstmord wird selten aus Überlegung begangen (obwohl diese Hypothese nicht ausgeschlossen ist). Meist löst etwas Unkontrollierbares die Krise aus.… Es handelt sich einfach um das Geständnis, daß es sich nicht lohnt.… Bei dem Wettlauf, der uns dem Tode täglich etwas näher bringt, hat der Körper unwiderruflich den Vorsprung.
    TV: Um Mitternacht ein interessanter Film über den Dirigenten Riccardo Chailly. Sonst nichts besonderes.

Nartum
Di 18. April 1989
    Bild: Flucht hinterm Reichstag: Andreas kam durch / Sein Freund ertrunken?
    ND: Für die Festigung des Bruderbundes zwischen DDR und ČSSR
     
    Hildegard bekam verdammt wenig Post zu ihrem Geburtstag, kaum Anrufe. Peinlich! Der Verleger, von mir instruiert, schickte Tulpen einen Tag zu früh, was auch nicht grade die Stimmung eines nachdenklichen Menschen hebt. Hildegard selbst schien die mangelnde Aufmerksamkeit der vielen Menschen, die sie hier bekocht und erheitert hat, nicht so tragisch zu nehmen. Sie war fröhlich gestimmt, und wir beiden Ollings gingen Arm in Arm, wie immer, morgens um zehn einmal durch den Garten. In unserer Ehe hat mal der eine, mal der andere mehr zu tragen gehabt. Mich erwischte es gleich zu Anfang, die Ablehnung durch die Behörden, und dann, als die Kinder klein waren, Hildegards Krankheit. Sie mußte nach Oberneuland, und ich saß da, allein mit den Kindern, und die zweite Staatsprüfung stand vor der Tür. - Für Hildegard waren dann besonders die 70er Jahre schwierig. Schule, die pubertierenden Kinder und meine auf die überbordende Produktion gerichteten Energien. Ich selbst habe
es nie schwer gehabt mit ihr, und so wie sie da

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