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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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von Hitler entdeckt. Steht öffentlich auf irgendeinem Marktplatz, kein Mensch hat’s bemerkt.
    Die Schwiegermutter war über Sonntag hier. Sie kann nun gar nichts mehr behalten, sie weiß zum Beispiel nicht mehr, wer ich bin. Sie wird auch ein wenig obstinat, was mir gelegentlich Spaß macht. Ich nannte sie aus Spaß:«Gertrud-weiß-nit!»-«Gertrud weiß alles!»sagte sie daraufhin. Ob sie sich gelegentlich daran erinnert hat, wie unwillkommen ich ihr als Schwiegersohn war? Sie traf mich mit ihrer Verachtung oder Nichtachtung im schwächsten Moment, damals, als mir die sogenannte Anerkennung als politischer Häftling verweigert wurde. So was fällt einem nun ein. Zu Goethe:
    Goethe ißt indes noch ziemlich stark. Im Lauf des Vormittags trinkt er ein großes Wasserglas Wein und ißt Brot dazu, und am Weihnachtsfeiertag sah ich ihn des Morgens eine solche Portion Napfkuchen zu dem Wein verzehren, daß es mich wirklich wunderte. (W. v. Humboldt 1826)
    Was das Essen angeht, da kann man auch von Adalbert Stifter einiges lesen! Da sie beide (Stifter und Frau) gern gut und reichlich aßen, gingen sie schon nach wenigen Ehejahren beträchtlich in die Breite. Einmal wollte ein junger Schriftsteller den bewunderten Schöpfer der idealen Jünglings- und Frauengestalten besuchen. In dem Haus, wo Stifter wohnte, sah er die Treppe von einem langsam vor ihm hinaufsteigenden korpulenten Paar versperrt
… Es waren Stifter und Frau. Irgendwo habe ich auch gelesen, wie sie gepraßt haben. Finde die Stelle jetzt nicht.
    Am Spätnachmittag fuhren Hildegard und ich zu einer Lesung. Zwei Stunden Autofahrt hin und zwei Stunden zurück, ein eisenhartes Steak und matschige Pilze. Aber lieb waren sie, die Leute. Ein ehemaliger Schüler, der sich freundlich zu meinem Unterricht äußerte.
     
    Werner , Heiliger. Als armer Knabe wurde er nach der Legende am Gründonnerstag 1278 von Juden, für die er Erde aus einem Keller schaufeln mußte, ins Haus gelockt und zu Tode gepeinigt …
    O je! Reclams Lexikon der Heiligen von 1968. Noch nicht revidiert!?

Nartum
Do 20. April 1989
    Bild: Hitler 100/Schlimme Drohungen von Rechtsradikalen / Heute Angst vor Nazi-Terror / Polizei bewacht Schulen / Türken wagen sich nicht auf die Straße
    ND: Modernisierung der Raketen der NATO führt zu neuem nuklearem Wettrüsten / Kernfusion auf kaltem Wege an der Technischen Universität Dresden gelungen
     
    In der Nacht Bauchgrimmen, wachte bis halb vier. Eine dieser Infektionen, nun zur Regel werdend, die ich vor fünf Jahren noch nicht kannte.
    Lesung in Bönningstedt. Vorher bei Robert in Niendorf. Beim Chinesen Han Yang (Inhaber: Ming Chu Yu) gegessen. Robert erklärte dem Asiaten, wie er es immer tut, wenn er in einem Restaurant ißt, daß er nur einen ganz kleinen Magen hat und nur wenig essen kann. - Ob diese Leute auch erpreßt werden von der Mafia? Haben so hübsche Goldfische …- Wir waren die einzigen
Gäste. - Was für ein Unterschied zu meinem ersten Chinesen-Essen in Edmonton 1970. Die Leute haben sich hier auf die Primitivität der Deutschen eingestellt, die außer Frühlingsrolle und süßsaurem Schweinefleisch nichts kennen und wollen. Zur Lesung kamen reizende Kempowski-Fans.
    In Ungarn gibt es schon 30 Parteien. Die Leute dort streben eine«Finnlandisierung»an, wie es in unseren Zeitungen zu lesen steht. In Polen sollen jetzt die«Sicherheitsorgane»gerichtlich kontrolliert werden.
    Ein Film über Israeli-Soldatinnen. Die schlafen mit Männern in einem Zelt.
    TV: Wegen des 100. Geburtstages des«Führers»ein ganzer Hitler-Abend.«Bündnis des Unheils»und«Was ist von Hitler geblieben? »mit Walter Jens und Sebastian Haffner, Stölzl und Zitelmann. Ich kann mir so was nicht ansehen. - Zwischen den beiden Sendungen sinnigerweise das Zirkus-Festival in Monte Carlo. - 1979, zum 90., gab’s auch eine Sendung über Hitler, sechs Leute hatte man gebeten. Auch ich war wegen meines Hitlerbuches dabei, aber ich wurde nicht ein einziges Mal nach irgend etwas gefragt. Man hungerte mich aus. Die Talk-Dame kriegte hinterher was auf den Deckel. War es Lea Rosh? Radio: Thomas Mann in der Hamburger Musikhalle am 3. Juni 1953:«Felix Krull». Die angenehme Stimme, ich hörte ihn auf dem Bett liegend, das Heizkissen auf dem Bauch. Wie gerne hätte ich ihn gesehen! Wo sind all die Leute, die ihm damals zugehört haben? Außer Bernt Richter habe ich noch nie einen Menschen getroffen, der mit ihm mal in Berührung gekommen wäre. Doch - Herrn Knaus. Er ist als

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