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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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    Schwiegermutter bedauernswert boshaft, schade, sie verschafft sich dadurch einen schlechten Abgang. -«Sie verdirbt sich ihre Biographie», wie Johnson es ausgedrückt hätte.
    Andererseits, sie wird den Eindruck unserer Gereiztheit, unserer Ungeduld mit ins Grab/ins Jenseits nehmen. Und das wird als Unsegen auf uns zurückwirken.
    Abends mal wieder den«Hutmacher»von Chabrol, mit Kopfweh ins Bett, zu nichts mehr in der Lage. Mein Freund Krolikowski war kurz zu sehen. Er wird wie die andern Mitglieder des Politbüros als«Geront»bezeichnet. Einer ist dabei, der hat nur ein Bein.
    «Sirius»: Schwierig, etwas wegzulassen. Ich dachte ursprünglich, daß ich einen Strang isolieren könnte, aber es greift alles ineinander.
Der Bau des Turmes, die«Hundstage»-Wiederholungen, Lesereisen - das sind zusammenhaltende«Stränge». Schopenhauer schreibt über den Selbstmord:
    Der allein triftige moralische Grund gegen den Selbstmord … liegt darin, daß der Selbstmord der Erreichung des höchsten moralischen Zieles entgegensteht, indem er der wirklichen Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine bloß scheinbare unterschiebt. Allein von dieser Verirrung bis zu einem Verbrechen, wozu ihn die christliche Geistlichkeit stämpeln will, ist ein sehr weiter Weg.
    Im«Echolot»wird der Weltuntergang vorweggenommen.
Die Zuckungen des europäischen Leibes.
1789-1815.
1914-1919.
1935-1945.
    Der nächste Sprung wäre rein rechnerisch im Jahre 2020 zu erwarten.

Nartum
Di 23. Mai 1989
    Bild: 4 und 3 Jahre Haft im Zypern-Prozeß/Berliner Mutter und Tochter in einer Zelle
    ND: Freundschaftliches Treffen zwischen Erich Honecker und Wojciech Jaruzelski
     
    Rückblick auf 40 Jahre Bundesrepublik im Fernsehen: der magere Heuss am Küchentisch der Verfasssunggebenden Versammlung. - Daß Erika Mann die Bundesrepublik stets«Bunzrepublik»nannte, war ja auch keine Lösung. Die muß ja überhaupt eine ziemliche Zicke gewesen sein. Gräßlich. Der arme Vater. Hat nicht einmal ein anständiges Tagebuch hinterlassen. Dorfroman: Der Hahn kam heute irgendwie nicht klar mit dem Trinken. Sein Schlips tunkte dabei ins Wasser, und das ärgerte ihn. Schließlich fand er die richtige Position und trank genießerisch,
so als ob er erst mal schmecken muß, ob das auch gutes Wasser ist. Und bei jedem Tropfen dann: Ja, es schmeckt vortrefflich. - Wenn die Gourmet-Weintrinker wüßten, daß sie genauso aussehen wie unser Hahn.
    Schwiegermutter heute:«Wißt ihr was? Ich lad’ euch zum Essen ein.»- Beim Wegfahren dann:«Ich hab’ aber nur 30 Mark.»
    «Das macht nichts, wir leihen dir was.»
    Und schließlich, hinterher, beim Mundabwischen:« Wieviel kostet das Essen? 78 Mark? …Wieviel ist das durch drei? 26 Mark? Gut, ich geb’ euch die Dreißig.»Wir lachten darüber.
    Natürlich hat sie bei uns, was man salopp einen«Jagdschein»nennt, aber es fällt nicht immer leicht, den Unwillen ins Lachen abzudrehen. Das Berechnende, Boshafte, was zum Vorschein kommt, fordert Gegenwehr heraus. Ihr fränkischer Charme. Hildegard sitzt stundenlang mit ihr zusammen.
    Am Abend wollte ich mir noch mal Mahlers Achte anhören, stell’ mir das Gebrülle ein: Bumms steht sie hinter mir, ob sie mithören darf?
    Ich hab’ ganz allmählich den Regler leiser gestellt. Ehe es zu Eskalationen kommen konnte, kam Hildegard und holte sie ab.
    «Einmal möcht’ ich noch nach Berlin!»
    Eigentlich zum Lachen, wenn’s nicht so traurig wär’.
     
    In der Zeitung steht, die SU habe die Entspannungsphase der 70er Jahre zur Wiederaufrüstung genutzt. Was sagen unsere Friedensfreunde dazu? Sie haben Sendepause in ihren Friedenslöchern.
    Nietzsche über den Selbstmord:
    Wir haben es nicht in der Hand zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler - denn bisweilen ist es ein Fehler - wieder gut machen. Wenn man sich abschafft , tut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben. («Götzen-Dämmerung»)

Nartum
Mi 24. Mai 1989
    Bild: 881 Stimmen für Weizsäcker / Rekord / Kuß von Marianne /Watsch’n von der CSU
    ND: Erich Honecker empfing den Militärrat der Vereinten Streitkräfte
     
    Der Wasserhahn sagte heute früh laut und deutlich:«Tatsachenforschung. »Ich werde ihn in Zukunft als Orakel benutzen. Von weither werden die Leute kommen, um sich wahrsagen zu lassen. Es müßte dann rotes Wasser aus ihm heraustropfen. - Keinerlei Aberglaube, aber hin und wieder erhebliches Unken. Aberglaube wird aus einem

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