Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman

Titel: All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
waren meergrün. Sehr kleidsam. Bisher hatte er auf Damenschuhe nie geachtet, außer er hatte einen Grund gehabt, sie sich genau anzusehen. Die Schuhe, die er in letzter Zeit gesehen hatte, waren zugegebenermaßen besonders schön gewesen. Eher Kunstwerke als Schuhe – was von den Designern natürlich so gedacht war. Er schloss die Augen und stellte sich Carol-Annes Schuhe vor.
    Er wollte sich wohl ganz bewusst von seinem Fall ablenken,
das Gespräch mit Shirley Husselby nicht noch einmal durchgehen, sondern es vorerst eine Weile ruhen lassen. Womöglich würde noch etwas zum Vorschein kommen. Die Fahrt nach Brighton hatte sich zweifellos gelohnt: Chris, beziehungsweise Crystal, Cummins, die mit Kate Banks zur Schule gegangen war, hatte nicht zugegeben, wie gut sie sie gekannt hatte.
    Bei jedem Fall gab es immer einen Punkt, an dem Jury das Gefühl hatte, es war alles da. Man musste nur noch so etwas wie einen Flipperautomaten in Gang setzen und die Kugeln in die entsprechenden Löcher befördern.
    Chris, beziehungsweise Crystal, hatte Davey am Ende geheiratet.
    Für Jury stellte sich die Frage: Wieso war David Cummins in Bezug auf die Tatsache, dass sie Kate Banks kannten, und zwar gut kannten, nicht mitteilsamer gewesen? David war doch Polizist und wusste, dass solche Informationen von entscheidender Bedeutung sein konnten.
    Vielleicht hatte er gerade das vermeiden wollen.
    Auf Jurys Handzeichen hin blieb der Zugbegleiter mit dem Imbisswägelchen stehen, und Jury bat um Tee und ein Stück Bisquitrolle, das er zwar beäugte, aber dann nicht aß.
    Er ließ den Kopf auf das Nackenkissen sinken und nippte seinen Tee, während der Zug in den Bahnhof von Redhill ratterte. Ein paar Leute machten sich fertig zum Aussteigen, trübäugig, als wären sie statt von Southern Railway gerade von der Transsibirischen Eisenbahn aus Brighton herbefördert worden. Einige stiegen aus, andere ein. Er versuchte, keine Notiz davon zu nehmen, die Freuden der Anonymität weiter zu genießen.
    Die alsbald durchbrochen werden sollte. Die Augen halb geschlossen, beobachtete er, wie sich ein kleiner, stämmiger Mann ihm gegenüber geräuschvoll niederließ. Das Rascheln und Knistern entpuppte sich als Sandwich und eine Tüte Kartoffelchips, die er auf den Tisch zwischen ihnen legte. Ein Schlürfen und Schmatzen folgte, das sich als Kaffee entpuppte. Sein Reisegefährte
empfand geschlossene Augen offenbar nicht als Gesprächs- oder Kommunikationsbarriere. Hartnäckig verharrte der Zug in Redhill. Jury wünschte, er würde sich bewegen. Er tat es.
    »Möchten Sie?« Der andere hielt ihm über den Tisch hinweg die Chipstüte hin.
    Manche Leute wussten die Feinheiten einer Zugfahrt einfach nicht zu schätzen. Jury öffnete die Augen und schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, danke.«
    »Das sieht aber gut aus.«
    Jury wurde klar, dass der Mann den Kuchen meinte. »Der ist vom Imbisswägelchen.«
    Der Mann blickte über die Schulter, konnte das Wägelchen aber nicht sehen. »Davon nehme ich auch was, wenn er wieder vorbeikommt.«
    »Vor London vielleicht nicht mehr. Ist ja nicht mehr weit. Hier, nehmen Sie.«
    »Och, also …«
    »Wirklich. Nur zu. Ich habe keinen Hunger. Ich weiß auch nicht, wieso ich ihn genommen habe.« Er lächelte. »Rückkehr zur Kindheit. Süße Stullen.«
    Der Mann, ebenfalls lächelnd, zog den Kuchen zu sich herüber. »Danke. Übrigens – Mattingly, mein Name.« Mr. Mattingly streckte ihm die Hand hin.
    Jury schüttelte sie. »Richard Jury.«
    »Apropos Kindheit, ich war grade ein paar Tage bei meiner Schwester. Schön hatten wir’s, als Kinder. Jetzt ist sie schlimm dran. Richtig schlimm.« Sein Blick wandte sich der vorüberziehenden Landschaft zu. Er klang traurig.
    »Das tut mir leid.«
    Mr. Mattingly nickte nur und fuhr fort. »Ein schwerer Schlag, da gibt’s nichts zu deuteln. Hält sich aber tapfer. Wie, weiß ich nicht, und sie auch nicht. Bloß noch Haut und Knochen.« Er befreite den Kuchen aus seiner Klarsichtfolie.

    Haut und Knochen. Wahrscheinlich war Mr. Mattingly deshalb so darauf bedacht, möglichst viel in sich hineinzustopfen. Nicht so sehr für sich selbst, sondern um seiner Schwester willen. Er biss die Hälfte ab. »Schmeckt ja recht gut.«
    Jury wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er schaute auf das dichter werdende Häusermeer hinaus, die grauen, ausgezackten Ränder der Londoner Stadtlandschaft.
    Mattingly erzählte weiter von seiner kranken, offenbar sterbenskranken Schwester. Er

Weitere Kostenlose Bücher