All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
verzehrte den Rest des Kuchenstücks, trank seinen Kaffee und redete immer noch, als der Zug zehn Minuten später heulend und quietschend in der Victoria Station einfuhr.
Wo waren eigentlich alle diese Leute zugestiegen?, wunderte sich Jury. Es waren mehr als doppelt so viele wie bei der Abfahrt in Brighton. Sie standen im Gang und stolperten mühselig voran, als würden sie mit Gewehren und Bajonetten geschubst und gestoßen. Jury hatte keine Ahnung, wie er auf diese brutale Vorstellung kam.
Hinter ihm schwadronierte Mr. Mattingly immer noch über Tod und Leben. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht eher eine Gnade ist, wenn einem jemand da heraushilft … Hat sie selber auch gesagt und wollte wissen, ob ich jemanden kenne. ›Cora, mein Liebes, wo würde ich denn den je treffen?‹ Trotzdem«, fuhr Mattingly fort, »kann’s ihr ja kaum verdenken, der Ärmsten.«
Inzwischen waren sie ausgestiegen. »Verzeihen Sie«, sagte Mattingly auf dem Bahnsteig und nahm seine kleine Tasche in die andere Hand, um Jury erneut die Hand schütteln zu können. »Nichts Langweiligeres, als wenn man einem Fremden zuhören muss, der einem im Zug die Hucke vollquatscht.«
Da durchfuhr Jury der Gedanke: Bruno.
Erinnert mich an Bruno , hatte Jenkins gesagt. In Jurys Gedanken rollte die Stahlkugel über die Oberfläche des Flipperautomaten. Er sah sie ins Loch fallen. »Nein, ich bin sehr froh,
dass Sie mit mir geredet haben, Mr. Mattingly.« Es war die Wahrheit. »Das mit Ihrer Schwester tut mir furchtbar leid.«
»Ja, danke. Also, ich muss los. Und noch mal danke für den Kuchen.«
Während Mr. Mattingly über den Bahnsteig davonwackelte, stand Jury da und schaute ihm nach. Nein, eigentlich sah er gar nichts außer den Bildern in seinem eigenen Kopf.
Das war es, woran Jury sich versucht hatte zu erinnern. Bruno. Hitchcock.
Der Fremde im Zug.
59. KAPITEL
Statt sich zur Hauptverkehrszeit in der U-Bahn durchzukämpfen, stellte sich Jury um ein Taxi an. Die Warteschlange war lang, aber erträglich. Während er wartete, klingelte sein Handy, und er griff hastig danach, um die Sprechtaste zu drücken, allerdings erst nachdem er ein paar süffisante Mienen bei denjenigen Umstehenden entdeckt hatte, die den Klingelton erkannten. Man stelle sich vor, ein erwachsener Mann. Er fand es schon toll, dass er daran gedacht hatte, das Gerät aufzuladen.
Es war Jenkins.
»Wir haben hier was, Richard. Ob es irgendeine Bedeutung hat, kann ich nicht sagen. Es ist ein Kassenbeleg für ein Buch. Von Waterstone’s. Datum ist der gleiche Tag, an dem Kate Banks ermordet wurde. Einer der Kollegen hat es gefunden, als sie das Absperrband entfernt haben.«
Jury war als Nächster in der Schlange dran. Er sagte: »Moment, Dennis«, als das nächste Taxi heranfuhr. »Ich steige gerade ins Taxi.« Er nannte dem Fahrer seine Adresse. »Also. Der Beleg wurde wo gefunden?«
»Zwischen zwei Pflastersteinen. Wieso den die Spurensicherung an dem Abend nicht gefunden hat, ist mir schleierhaft.«
Jury nicht. »Ihre Tatortspezialisten hätten ihn gefunden. Haben sie aber nicht, weil er nicht da war.«
Jenkins ließ es sich durch den Kopf gehen. »Sie meinen, der wurde nachträglich dort deponiert?«
»Ja. Welches Buch? Steht das auf der Quittung?«
»Einen Moment, es hat draufgeregnet … Schuhsüchtig , was auch immer das heißen mag.«
Jury sah aus dem Fenster. Sie fuhren gerade durch Clerkenwell. »Ich weiß Bescheid über Jimmy Choo und Manolo Blahnik, weil ich eine ›Schuhsüchtige‹ kenne. Um Ihnen die Kleinarbeit zu ersparen, Dennis: Derjenige, auf den das alles hinführt, ist Detective bei der Polizei von Thames Valley. Detective Sergeant David Cummins. Er hat das Buch gekauft, als er in London war. Mit dem sollten Sie mal reden.«
Jenkins klang ungläubig. »Polizei von Thames Valley? Ein Detective? Da sind Sie mir jetzt aber um einiges voraus.«
»Absolut nicht. Von dem Buch weiß ich nur zufällig, weil ich es zu Hause bei Cummins gesehen habe.«
»Pures Gold, die Spur, was?«
Jury lächelte. »Oder zumindest vergoldet. Lohnt sich hinzufahren, kann ich Ihnen versichern. Ich fahre morgen ins Hauptquartier nach High Wycombe. Wollen Sie mit?«
»Ja, aber ich kann nicht. Muss mich um irgendwelchen blödsinnigen Bürokram kümmern.«
»Ich berichte Ihnen später.«
Er warte darauf, sagte Jenkins und legte auf.
Das Taxi fuhr vor Jurys Haus vor. Überall Lichter. Fand hier etwa eine ausgelassene Party statt? Warum brannte in seiner Wohnung
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