All the lonely people
Erscheinungsbild zu schauen, das sie ihrer Umwelt zeigten. Mich hat das sehr berührt. Ich habe auch ihren Mut bewundert, denn es war deutlich zu spüren, wie schwer es ihnen fiel, darüber zu sprechen. Ich versichere Ihnen, dass Sie bei keinem geglaubt hätten, dass sich in dem Löwen ein Mäuschen versteckt: Greta zum Beispiel, eine 35-jährige Unternehmensberaterin, war der Star des Consultingunternehmens: kompetent, motivierend. Die Firmen fragten immer wieder namentlich nach Greta. Auch Lukas, 42, Regisseur, war beruflich sehr erfolgreich. Das Fernsehen riss sich um ihn. Außerdem war er charmant und sah gut aus. Die Frauen liefen ihm die Türe ein. Sabine, 50, Psychotherapeutin, strahlte auf ihre Klienten Sicherheit und Wärme aus. Sie hatte eine ellenlange Warteliste.
Was diese Menschen miteinander verband, war die tief sitzende Angst, ihre andere Seite zu offenbaren. Sie hatten früh gelernt, dass es tödlich ist, Schwäche zu zeigen und dass Vertrauen lebensgefährlich sein kann. Das klingt ziemlich dramatisch, aber genau so fühlt es sich für viele von uns an.
Irgendwann in unserer Kindheit haben wir den Pakt mit uns geschlossen: |156| Wir lassen uns nicht mehr verletzen. Entsprechend entwickelten wir unsere Löwenseite. Wir wurden stark, tüchtig, glatt, unangreifbar. Das gab uns den notwendigen Schutz. Unsere Mäuseseite hätten wir zwar am liebsten verbannt, doch das gelang uns leider nicht. Also taten wir wenigstens alles, um sie zu verstecken. Inzwischen ist uns das so zur zweiten Natur geworden, dass uns kaum noch bewusst ist, vor was wir uns eigentlich fürchten: Wenn ich meine Schwäche zeige, lassen mich die anderen fallen wie eine heiße Kartoffel. Dann will niemand mehr etwas mit mir zu tun haben, und mir wird auch noch das bisschen Kontakt genommen, das ich immerhin noch habe. Oder: Dann wird man mich ausnutzen, auslachen, demütigen.
Wir verschließen uns automatisch, sogar vor den Menschen, die wir lieben. Im Laufe der Jahre haben wir verlernt, zu vertrauen.
Einsam, weil uns keiner wirklich kennt
I n diesem Zustand sind wir einsam, selbst im größten Freundeskreis, sogar in unserer Familie oder an der Seite eines Partners. Wir können keine echte Beziehung aufbauen, weil wir ständig damit beschäftigt sind, unser positives Image zu bewahren. Falls unser unsicheres, verletzliches Ich doch einmal durchbricht, ist es uns ausgesprochen peinlich. Das kann zum Beispiel passieren, wenn wir krank sind oder unter großem Stress stehen, wenn uns ein Verlust sehr getroffen hat oder wir überrascht werden. Im Nachhinein versuchen wir das dann vor anderen herunterzuspielen, indem wir rational erklären, warum wir so reagiert haben oder uns selbst darüber lustig machen. Männer sagen vielleicht.: »Gestern hatte ich wirklich den Blues, muss wohl an zu viel Wodka Lemon gelegen haben.« Frauen beschwichtigen eher: »Du, heute geht es mir schon viel besser. Ich weiß auch nicht, was gestern mit mir los war.«
Indem wir unsere vermeintlich schwachen oder dunklen Seiten verbergen und unsere Wünsche, Träume und Gedanken für uns behalten, erreichen wir zwar eine gewisse Sicherheit, doch der Preis ist hoch. Wir haben das Gefühl, dass uns keiner erkennt, dass wir mutterseelenallein |157| auf der Welt sind. Letztlich stimmt das ja auch. In unserer Innenwelt sind wir ganz allein, weil wir niemanden hineinlassen. Wir haben dafür gesorgt, dass wir nicht als ganze Person geliebt, gemocht oder geschätzt werden, sondern nur ein bestimmter Teil von uns.
Damit stecken wir in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite wünschen wir uns sehnlichst einen Menschen, der endlich hinter unsere Fassade schaut, der uns wirklich sieht und trotzdem liebt. Der Wunsch nach dem Märchenprinzen oder der Traumfrau hat darin einen Ursprung. Leider tauchen diese Märchenfiguren höchst selten auf. Vielmehr nehmen uns unsere Mitmenschen so, wie wir uns ihnen präsentieren, nämlich stark und sicher. Teilweise reagieren sie sogar gereizt und ungläubig, wenn wir versuchen, daran etwas zu ändern. »Damit hast
du
doch kein Problem!«, heißt es dann, oder: »Ach, du schaffst das schon.«
Wenn aber wirklich das kleine Wunder geschieht und jemand uns ganz und gar kennen lernen möchte, überfällt uns eine Heidenangst davor, dass er uns zu nahe kommt und uns am Ende durchschaut. Deshalb ziehen wir uns oft zurück, sobald die Beziehung zu dicht wird.
Haben Sie das Löwe-Maus-Syndrom?
V ielleicht haben Sie jetzt schon erkannt, dass
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