All the lonely people
Selbstmitleid und Einsamkeit ausgeliefert, und selbst die nächsten Angehörigen werden sich, wenn überhaupt, nur noch aus Mitleid oder Pflichtgefühl um einen kümmern.« 31 Wenn wir nicht völlig vereinsamen wollen, müssen wir ein gewisses Maß an Selbstdisziplin aufbringen.
Hier ist eine Psychotherapie die Lösung. Es gibt speziell in Trauerarbeit geschulte Therapeutinnen und Therapeuten. Neben der kompetenten Aufarbeitung bieten sie einen großen Vorteil gegenüber dem Gespräch mit Freunden: Sie hören sich Ihre Geschichte so lange und so oft an, wie es nötig ist. Es besteht nicht die Gefahr, dass Sie ihre Geduld strapazieren. Weder brauchen Sie Rücksicht zu nehmen, noch besonders dankbar zu sein.
Mutig weitergehen
W ie lange es dauert, bis Sie Ihre Trauer bewältigt haben, lässt sich nicht vorhersagen. Das kann von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden: Ihrem Naturell, Ihrem Alter, Ihrer Selbständigkeit, der Länge der Beziehung, den vorangegangenen Verlusten. Von daher sollten Sie sich nicht selbst unter Druck setzen und auch nicht von außen drängen lassen. Nur eines dürfen Sie nicht: Sich dem nächsten Entwicklungsschritt verschließen. Ohne den Mut zum Weitergehen wird die Trauer chronisch und verhindert die Befreiung aus der Einsamkeit.
In ihrem Buch
Plötzlich allein
hat Marlene Lohner Interviews mit Frauen zusammengestellt, die ihren Partner durch den Tod verloren haben. Darin findet sich auch die Aussage einer Witwe, deren Mann vier Jahre zuvor an Krebs starb. Seitdem hat sie in der gemeinsamen Wohnung nichts verändert. Sie sagt: »Ich bin nicht im geringsten daran |151| interessiert, auch nur noch die kleinste Kleinigkeit dazuzukaufen, weil die gemeinsame Freude fehlt. Wofür denn noch? Die Prioritäten haben sich doch gewaltig verändert. Es ist im Grunde genommen doch nichts mehr wichtig. Wichtig ist nur noch: mit Anstand weiterleben, weil ich nun mal weiterleben muss, und dabei Haltung zu bewahren.« 32 Ich maße mir nicht an, die Länge der einzelnen Phasen im Trauerprozess festzulegen, doch es scheint mir, als ob diese Frau in der zweiten Phase stecken geblieben ist. Ihre Trauerarbeit wird stagnieren, wenn sie nicht beginnt, ihre eigene Identität zu entwickeln, anstatt sie weiterhin von ihrem verstorbenen Mann zu beziehen. Das setzt Mühe und Willen voraus, auch gegen Resignation, Lähmung und Angst anzugehen.
Ein beeindruckendes Beispiel dafür, was es heißt, Trauerarbeit zu leisten, gab mir eine Freundin, die vor einem halben Jahr ihren Sohn durch einen tragischen Unfall verloren hat. Zu ihrem Geburtstag erhielt ich eine Einladung, die mit den Worten überschrieben war: »Trotz alledem …«. Darin stand, dass sie die Menschen einladen wollte, die ihr etwas bedeuten. Diese Haltung repräsentiert für mich, was ich Ihnen raten möchte: Gehen Sie behutsam mit sich um, aber wagen Sie den nächsten Schritt.
Der Gewinn der Verluste
V erluste, die einen geliebten Menschen betreffen und solche anderer Art, sind mehr als eine Unberechenbarkeit des Schicksals, die es irgendwie zu überstehen gilt. Sie sind Teil unserer seelischen Entwicklung. David Feinstein und Peg Elliott Mayo weisen in ihrem Buch
Zeit des Lebens, Zeit des Sterbens
darauf hin: »Ohne die Fähigkeit, sich auf Verluste einzustellen, verwandelt sich Trauer in Selbstmitleid statt in Weisheit. Aus Angst entwickelt sich Verdrängung oder Panik statt kritisches Urteilsvermögen und Ärger mündet in selbstzerstörerische Wut statt in erfolgversprechendes Handeln.« 33
Indem Sie bewusst durch alle Phasen Ihrer Trauer um das Verlorene gehen, erobern Sie sich einen Schatz, den Ihnen niemand mehr nehmen kann: Sie erlangen Reife, unabhängig von Ihrem Alter. Ihre |152| Erfahrung fügt Ihrer Menschlichkeit eine neue Dimension hinzu. Von nun an können Sie sich selbst und andere besser verstehen. Das werden Sie ausstrahlen und damit eine besondere Anziehung erlangen. Sie haben erfahren, dass Sie tiefen Schmerz überleben und dass er tatsächlich vergeht. Diese Kenntnis verlieren Sie nie mehr. Wie eine Impfung wird sie Sie beim nächsten Verlust davor schützen, völlig zu verzweifeln. Sie wissen nun, dass, wenn Sie sich darum bemühen, die Einsamkeit durch Verluste nicht für ewig ist.
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Einsam, weil wir nicht offen sind
D ie Überlegung, auf welche Weise wir uns selbst einsam machen, verfolgte mich offenbar bis in meine Träume. Jedenfalls brachte mir eine kurze Traumszene ein Aha-Erlebnis und den Schlüssel zu diesem
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