All unsere Traeume - Roman
Claire. Sie wusste genau, wie es sich anfühlen würde, dieses weinende, sich windende, wunderschöne Baby. Stark und lebendig und real und erst wenige Minuten alt. Wenn sie ihn halten würde, selbst nur einen Moment lang, würde sie glauben, dass er ihr gehörte. Seine warme, glatte Haut, die noch zu lose für seinen Körper war, seine feuchten Haare, die spindeldürren Gliedmaßen, die hauchdünnen Fingernägel.
»Bitte«, sagte Romily. Etwas Heißes und Nasses, eine Träne, landete auf Claires Arm. Romily hatte die Augen geschlossen, den Kopf abgewandt. Claire stützte sie noch immer.
»Tja, irgendwer muss ihn nehmen«, sagte die Hebamme. »Ich muss noch die Plazenta entbinden.«
»Ich kann nicht«, entschied Claire, obwohl sie sich mit jeder Faser ihres Körpers danach sehnte.
»Wenn ich ihn nehme, werde ich ihn behalten wollen«, sagte Romily. »Tu mir das nicht an.«
»Er gehört dir.«
»Nein.«
Hinter ihnen beiden schrie das Baby nach seiner Mutter. Es war das wunderbarste, das schrecklichste Geräusch auf der ganzen Welt. Die ersten paar Minuten des Lebens konnten den Ton dessen vorgeben, was folgen würde. Das wusste Claire. Sie hatte die Bücher gelesen. Dieses Baby war in eine kalte, verwirrende Welt geworfen worden, und es wollte Trost, Wärme, den Menschen, der ihn am meisten liebte.
»Romily«, flehte sie.
Es klopfte an der Tür, dreimal hintereinander. Romily hob den Kopf.
»Ben ist hier«, sagte sie. »Gott sei Dank.«
Claire sprang auf und öffnete die Tür. Er war verrückt vor Sorge, mit irrem Blick, unrasiert, in Laufkleidung. Er umfasste ihre Schultern. »Ich habe deine Nachricht eben erst gekriegt. Was ist los? Geht es ihnen gut?«
»Alles ist in Ordnung, aber du musst das Baby für uns halten.« Sie zog ihn in das Zimmer. Sie hörte, wie Ben beim Anblick seines Sohnes aufkeuchte – das in ein weißes Handtuch gewickelte Baby, in den Händen der Hebamme.
»Das also ist Daddy?«, fragte die Hebamme. Zum ersten Mal schwang ein Hauch von Verdruss in ihrer Stimme mit.
»Das ist Daddy«, sagte Romily, die Augen erneut ge schlossen. »Er wird das Baby nehmen.«
Ben streckte die Hände aus. »Ist es … Ist er … Oh.«
Claire beobachtete, wie die Hebamme ihm das Baby reichte. Die Ehrfurcht auf Bens Gesicht, die Art, wie er sich das kleine Bündel augenblicklich an die Brust drückte.
»Oh«, wiederholte er. Er strich mit einem Finger die Wange seines Sohnes hinab, und das Baby hörte zu weinen auf und drehte instinktiv den Kopf danach. Claire konnte sich die Weichheit vorstellen, das flaumige Haar. Sie wich zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Tür. »Hallo, mein Kleiner«, flüsterte Ben. Es war bei Weitem das lauteste Geräusch in dem Zimmer. »Hallo, mein kleiner Junge.«
Die Hebamme war bereits wieder mit Romily beschäftigt. Sie half ihr auf die Beine und brachte sie ins Schlafzimmer. Die reale Welt war hier, bei Claires Ehemann, der sein Kind hielt. Das Baby blickte in Bens Gesicht empor. Sie konnte sehen, dass seine Augen wie Bens aussahen.
Die Babykleidung war noch auf dem Sofa, zusammen mit der Tasche voller Fläschchen. Die Hebamme befand sich im Schlafzimmer, um zu helfen. Alle waren sicher, sie waren glücklich. Niemand brauchte sie.
»Oh, Claire«, sagte Ben. »Sieh ihn dir an, Liebling.«
Doch er sah nicht auf, tief versunken in seine Welt zu zweit.
Claire öffnete die Tür und schlich davon. Draußen war der Regen zu Schnee geworden.
Milch
R omily war allein. Sie saß an Kopfkissen gelehnt auf ihrem Bett, die Bettdecke bis zur Taille hinunterge schoben. Im CD -Player lief The Jam, um das Schweigen und das zischende Geräusch der Milchpumpe zu über decken.
Es ging ihr gut. Sie war ein wenig wund, zudem sehr müde, doch die Hebamme hatte sie gründlich untersucht. Es war alles bestens. Auf dem Bett liegend hatte sie zugehört, wie die Hebamme sich mit Ben über das Baby unterhalten hatte – wie gesund es war, wie schön, wie sein Nabel gepflegt werden musste und wann es zum ersten Mal gefüttert werden sollte –, all die Ratschläge, die man Romily wahrscheinlich in den Momenten nach Posies Geburt gegeben hatte und an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, weil sie zu trunken von jäher Liebe zu ihrer Tochter gewesen war, um etwas aufzunehmen. Und dann hatte sie gehört, wie sich die Wohnungstür hinter der Hebamme schloss und Ben auf ihr Zimmer zukam, das Baby auf dem Arm.
Sie war vom Bett gesprungen und hatte die Tür geschlossen, bevor er
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