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All unsere Traeume - Roman

All unsere Traeume - Roman

Titel: All unsere Traeume - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Cohen
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hereinkommen konnte. »Ich kann es mir nicht ansehen«, sagte sie durch die Tür.
    »Es ist perfekt, Romily.«
    »Es gehört mir nicht.«
    »Claire ist fort. Ich glaube nicht, dass sie mich sehen will.«
    Romily lehnte die Stirn gegen die Tür. »Du musst ihn wegbringen, Ben. Bitte.«
    Es entstand eine Pause. Durch die dünne Holztür hörte sie Kleiderrascheln, ein klitzekleines leises Ächzen. Sie legte die Hand mit gespreizten Fingern an die Tür, als könne sie hindurchgreifen, durch die paar Zentimeter, und die beiden berühren.
    Ben ging weg. Sie lauschte, wie er Dinge im Wohnzimmer zusammensuchte, während er mit sanfter Stimme auf das Baby einredete. Sie stellte sich vor, wie Ben ihn warm in die Kinderkleider einpackte, die Claire zurückgelassen hatte. Und dann ging die Wohnungstür hinter ihnen zu, und es herrschte vollkommene Stille.
    Seit über siebenunddreißig Wochen war sie nicht mehr allein gewesen, niemals völlig allein. Selbst davor, selbst wenn Posie nicht bei ihr war, selbst bevor Posie auf der Welt war, hatte sie jede Minute eine Art Bild von Ben mit sich herumgetragen. Sie hatte ihn in ihrem Herzen gehabt, eine fiktive Version ihres besten Freundes, die irgendwie ihr gehören konnte.
    Jetzt konnte sie ihn nicht mehr mit sich herumtragen. Noch nicht einmal eine fiktive Version. Sie hatte Ben und seinen Sohn zugleich verloren, mit einer letzten Presswehe, mit einer Geburt.
    Romily saß auf ihrem Bett und betätigte die Milchpumpe. Allmählich schmerzte ihre Hand, doch bisher war noch nichts herausgekommen. Säugetiere waren dazu geschaffen, ihre Jungen zu säugen. Es war ein charakteristisches Merkmal. Jedes Pferd konnte es, jede Antilope, jede Maus. Durch das Gebären wurde das Hormon Prolaktin ausgeschüttet, das die Milchproduktion anregte. Sie wurde außerdem durch die Saugbewegungen eines Neugeborenen angeregt, die diese Pumpe aus Plastik und Gummi nachahmen sollte.
    Es war nicht das Gleiche.
    Als Posie noch ein Baby war, bedurfte es nur eines Schreis, und Romilys Brüste fingen an, Milch abzusondern. Ihr Hemd bekam dunkle, nasse Flecken. Es musste noch nicht einmal ein Schrei sein: ein Schmatzen oder die Art, wie sie ihr Gesicht drehte, wenn man sie streichelte, um nach der Brust zu suchen. Die Art, wie sie den Mund beim Geruch nach Milch aufmachte, wenn Romily sie hielt. Die kleinste Bewegung oder das leiseste Geräusch brachten Romily dazu, sie dicht an sich zu halten, Haut an Haut, und sie zu stillen.
    Romily schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, sie heute kaum je geöffnet zu haben. Sie dachte an jene leisen Geräusche durch die Tür. Sie dachte an das kleine Köpfchen mit dem flaumigen dunklen Haar – sie wusste ohne hinzusehen, dass es dunkel war –, in die Armbeuge seinesVaters geschmiegt. Der geöffnete Mund, die zerknautschten roten Wangen, der zahnlose Gaumen. Der Duft seiner Haut, immer noch scharf von ihrer Gebärmutter. Ihre Hände schmerzten vom Pumpen, ihre Arme schmerzten – weil sie ihn nicht hielt. Ihr liebes Dings.
    Die Milch kam nicht. Auf ihren Lippen schmeckte sie Salz. Die Flasche war versiegelt, sicher und steril, doch Romily drehte trotzdem den Kopf weg. Falls die Milch doch noch käme, sollten ihre Tränen nicht darauffallen.
    Die CD war lange zu Ende. Nur ein paar Tropfen Milch waren herausgekommen, die Hebamme hatte es Vormilch genannt. Immerhin. Sie würde dem Baby guttun. Romily stellte die Flasche in den Kühlschrank neben die Erdbeer marmelade. Die Hebamme hatte netterweise die Handtücher in die Waschmaschine gesteckt, also hängte Romily sie auf. Sie tat die Decke ihres Vaters in die Waschmaschine. Auf dem Fensterbrett lag ein guter Zentimeter Schnee. Draußen war alles still. Es würde weiße Weihnachten geben.
    Wenn sie an den Schnee dachte, würde sie an den Stau in den Straßen denken, der sie daran gehindert hatte, das Krankenhaus zu erreichen. Sie würde an die Menschen denken, die im Stau warteten, sie würde an Claire denken, die in die entgegengesetzte Richtung fuhr, sie würde an Jarvis und Posie in einem verspäteten Zug denken, sie würde an Ben denken, der das Gesicht das Babys vor den Schneeflocken abschirmte. Sie würde über das Alleinsein nachdenken, darüber, ausgelaugt und leer zu sein.
    Sie würde nicht an den Schnee denken. Sie knipste die Lichter am Baum an und kehrte ins Bett zurück.
    Als sie gerade die Bettdecke ans Kinn gezogen hatte, hörte sie einen Schlüssel in der Tür. »Romily?«, rief Jarvis. Posie sagte nichts,

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