All unsere Traeume - Roman
Zum Schutz vor dem Regen zog sie sich die Kapuze über den Kopf.
Sie musste den Treidelpfad an der Themse nehmen, vorbei an Enten und Moorhühnern auf dem Wasser und auf dem Weg an Müttern mit Kinderwagen und an Fahrradfahrern. Immer wieder musste sie ausweichen, um nicht in Gänsekot zu treten, lief an Sozialsiedlungen und teuren Wohnblocks vorbei. Die Gummisohlen ihrer Stiefel klatschten auf dem Gehsteig und verursachten in der Unterführung ein Echo. Das Brickham-Museum befand sich im Stadtzentrum, im ehemaligen Rathaus – ein viktorianisch-neugotisches Bauwerk aus rotem und grauem Backstein. An der Vorderseite hatte es geschwungene Bogen fenster, spitze Türme, einen kathedralenhaften Eingang mit modernen automatischen Glastüren. Sie schlüpfte hindurch und erwiderte das Hallo des jungen Mitarbeiters, der bereits mit seinem Klemmbrett dastand, um Besucher zu begrüßen. Im Erdgeschoss zeichnete das Museum die Geschichte von Brickham nach, von der mittelalterlichen Abtei über den viktorianischen Industriestandort bis hin zum modernen Einkaufsparadies. Romily ging durch den Abstellraum mit den schwankenden Regalen mit dem Material für die Schulführungen und holte sich den Schlüssel für die Insektenkundesammlung. Sie ging direkt die schmale Hintertreppe hoch, vorbei an Büros, in denen sie Frauen zuwinkte, die längst fleißig arbeiteten, bis in den dritten Stock und zu ihrem Arbeitszimmer, einem vollgestopften Raum mit drei Schreibtischen, drei Computern, Regalen über Regalen mit Dingen, die darauf warteten, aufgeräumt zu werden, und einem kleinen Fenster hoch oben in der nördlichen Wand.
Sonst war noch niemand da. Sie atmete erleichtert auf, hängte ihren nassen Mantel in die Ecke und stellte ihre Ta sche auf den einzigen Schreibtisch mit Blick auf das Fenster. Dienstags musste sie ihren Lieblingsschreibtisch gegen eine freiwillige Hilfskraft verteidigen, die an der Katalogisierung der Keksdosensammlung arbeitete, und gegen eine Kunststudentin, die über eine Pferdeplastik promovierte. Natürlich hatte sie nichts gegen die beiden – Sheila und Layla waren richtig nett, und Romily war früher selbst einmal Doktorandin und freiwillige Hilfskraft gewesen –, aber sie arbeitete nun schon länger als die beiden hier, und sie hatte eben gern ein bisschen Tageslicht.
Doch ihre eigentliche Arbeit befand sich an einem an deren Ort. Der lag eine Treppe höher, und zwar eine kleine und sogar noch schmalere Treppe, die vor einer einzigen, über und über mit gelben Warnaufklebern bedeckten Tür endete. Romily ging nach oben, schloss die Tür auf und trat ein.
Der Mottenkugelgeruch nach Naphthalin, der Lärm der ständig schwirrenden Ventilatoren. Manche Vitrinen waren aus militärgrünem Metall, andere aus Mahagoni. Sie kannte den Inhalt von allen, doch ihre Vitrine war die große aus Rosenholz im hinteren Teil des Raumes unter der Dachschräge. Diejenige mit der Glastür und den schma len Schubladen, von denen jede einen Messingknauf aufwies. Oben an der Vitrine befand sich ein Messingtäfelchen: Sammlung von Amity Blake, 184 7 – 1907.
Sie öffnete die Glastür und ließ behutsam Schublade 70 herausgleiten. Dann brachte sie die mit einem Glasdeckel versehene Schublade nach unten, wobei sie auf der Treppe behutsam darauf achtete, wohin sie trat. Sie stellte die Schublade auf den Schreibtisch. Im Schubladeninnern befanden sich Dutzende Insekten, jedes einzelne mit einer Stecknadel befestigt und in winziger Schrift mit einer Referenznummer versehen für einen Katalog, der schon vor langer Zeit verloren gegangen war.
Amity Blake war die einzige Tochter und Erbin des Back steinfabrikanten Absolom Blake gewesen. Über ihr Leben war nur sehr wenig bekannt außer der Tatsache, dass ihr Vater starb, als sie achtundzwanzig und somit eine alte Jungfer war, und dass er ihr sein gesamtes Vermögen hinterließ. Doch anstatt es als Mitgift zu verwenden, um einen Mann anzulocken, reiste Miss Amity Blake um die Welt und sammelte Insekten. Miss Blake war kein Einzelfall. Romily hatte den Eindruck, dass in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts praktisch jeder Engländer, der über die nötigen Mittel verfügte, mit Chloroform und Insektennetz bewaffnet Feld und Wiesen unsicher machte. Erstaunlich war nur, dass sie eine alleinstehende Frau war.
Die Sammlung war dem Museum kurz nach Amitys Tod gespendet worden, und einen Teil hatte man sogar ausgestellt, auch wenn zwei Weltkriege und immer geringere
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