All unsere Traeume - Roman
finanzielle Bezuschussung dazu geführt hatten, dass die Sammlung nie richtig katalogisiert worden war.
Romily war zum ersten Mal als frischgebackene Doktorandin auf Amitys Schatztruhe aus Rosenholz gestoßen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Romily hatte in der Zeit gearbeitet, in der sie wahrscheinlich ihre eigenen Forschungsergebnisse hätte niederschreiben sollen, zumal sie zu Hause ein Kleinkind hatte. Sie hatte Arten aus Afrika, Indien, Malaysia und von den Philippinen identifiziert – alles Orte, die für eine viktorianische alte Jungfer angeblich tabu waren. Romily hatte eine der freiwilligen Hilfskräfte des Museums im Bereich Heimatkunde dazu überredet, zu recherchieren, ob es von Amity womöglich eine Porträt-fotografie gab, aber es hatte sich nichts dergleichen auftreiben lassen. Romily störte es nicht. Sie konnte sich Amity ohne Weiteres vorstellen: eine wenig attraktive Frau in stocksteifer Haltung mit einem Hut mit Schleier, behutsamen Fingern und einem Zwicker für minutiöses Arbeiten. Sie hatte sich bestimmt in einem bodenlangen Kleid meilenweit durch den Busch gekämpft.
Sie war Romilys Heldin.
Nach ihrer Promotion war sie als freiwillige Hilfskraft geblieben und hatte die unbezahlte Arbeit an der Samm lung mit ein wenig Lehrtätigkeit und einem Job als Kellnerin in einem örtlichen Café ausgeglichen und Bewerbungen für Stipendien geschrieben, nachdem Posie eingeschlafen war. Wissenschaftlerinnen aus dem neunzehnten Jahrhundert lagen ein wenig im Trend, außerdem gab es Interesse vor Ort, also hatte Romily Gelder bewilligt bekommen, damit sie die Sammlung weiter katalogisierte.
Schublade 70 war voller graubrauner Motten. Amity neigte dazu, unterschiedliche Arten zu sammeln anstatt möglichst viele Exemplare derselben Art, und sie ordnete sie gern nach Farbe und nicht nach Art oder nach Fundort, was Romilys Aufgabe noch schwieriger und spannender gestaltete. Ein Kleiner Kohlweißling aus Berkshire lag da vielleicht dicht an dicht mit einem Appias phaola aus dem Kongo. Auf der Suche nach ihrem Brillenetui griff sie in ihre Handtasche und stieß auf den Schwangerschaftstest.
Ach ja. Das hatte Vorrang. Sie zog auch ihr Handy heraus. Da waren fünf SMS und drei Anrufe in Abwesenheit, alle von Ben. Natürlich drehte er durch, während er darauf wartete zu erfahren, ob er demnächst ein Baby bekommen würde oder nicht.
Sie war also nicht nur eine miserable Mutter, sondern auch eine miserable Freundin. Entschlossen verbarg sie den Test wieder in ihrer Handtasche und verließ damit ihr Reich, um die Museumstoilette aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin steckte sie den Kopf in die Personalküche, in der Hal, der Museumsleiter, düster in seiner Tasse Tee rührte.
»Hal, können Sie sich bitte für mich in den Computer auf Schreibtisch eins einloggen?«
»Dr. Summer.«
Sie hielt inne. »Ja, Hal?«
»Dr. Summer. Sie sind eine gebildete Frau. Können Sie mir erklären, warum wir in einem Land, das längst keine globale Weltmacht mehr ist, uns nicht endlich auf das besinnen, was uns geblieben ist, unser eigentliches Erbe, unser immenses Wissen?«
»Wir stecken mitten in einer Rezession, Hal. Beim Stadtrat kommen Museen an letzter Stelle. War gestern zufälligerweise eine Haushaltssitzung?«
»Wir brauchen mehr Sex-Appeal«, murmelte er. »Müssen den Menschen eine echte Erfahrung vermitteln. Wissenschaft um ihrer selbst willen ist tot. Lassen Sie sich das gesagt sein, als Nächstes macht Simon Cowell Castingshows im Bildungsbereich.«
Er trank einen großen Schluck von seinem Tee, als hätte die Schwarzmalerei ihn durstig gemacht.
Romilys Handy piepte erneut und rief ihr ins Gedächtnis, dass sie sich um andere Dinge zu kümmern hatte. Leise fluchend setzte sie ihren ursprünglichen Weg zur Personaltoilette fort.
Es war das zweite Plastikstäbchen, auf das sie innerhalb der letzten zwei Wochen gepinkelt hatte. Sie zog die Jeans wieder hoch und wartete in der engen Kabine. Das Ergebnis erschien beinahe sofort, einfach und unmissverständlich.
Schwanger, 1 – 2 Wochen.
Aus ihrem Magen erhob sich eine Woge der Emotion, umklammerte ihr Herz und schnürte ihr die Kehle zu. Alles um sie her drehte sich. Es ist sein Baby, dachte sie und lehnte sich an die Wand der Kabine.
Ich werde sein Baby bekommen.
Romily wusste nicht, ob das, was in ihrer Kehle fest steckte, ein Lachen war oder ein Schrei. Sie schloss die Augen und zwang sich einmal durchzuatmen und dann noch einmal. Was wollte sie, lachen
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