All unsere Traeume - Roman
erneut zu ihr auf.
»Es klingt wie ein Wiegenlied. Sanft und warm«, sagte Claire.
»Es ist das Mutter-Thema.«
Er errötete bei den Worten, als seien sie ihm nur herausgerutscht. Claire legte die Zeichnungen ab und ging zu einem Stuhl ihm gegenüber, an den sie sich lehnte. »Was meinst du damit?«, fragte sie. »Ein Thema, kein Lied? Ist es Teil einer größeren Komposition?«
Max nickte. »Ich … ich habe es im Kopf. Verschiedene Menschen, jeder mit einem anderen Musikstück. Man tut sie alle zusammen, verwebt sie miteinander.«
»Das ist sehr ehrgeizig. Sind das die Noten, die du in letzter Zeit immer schreibst?«
»Ja.«
»Wie viel hast du fertig?«
»Ein paar Stücke.«
»Kann ich noch eines hören?«
Er spielte einen harten Riff, bluesig und rau. Sie hatte ihn schon gehört, angehängt ans Ende eines anderen Liedes, das er gespielt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass es irgendetwas aus den Charts war.
»Das ist Alan«, sagte Max. »Der Kerl in dem Zeitschriftenladen bei uns zu Hause, der immer den jungen Mädchen nachgafft.«
Claire lachte. »Hast du auch jemanden, den ich kenne?«
»Mrs. Greasley.« Erneut errötend spielte er ein paar Takte einer fröhlichen Melodie zum Rhythmus eines Militärmarsches, was genau zur Rektorin passte. Freundlich im Ton, aber hart in der Sache, so war Veronica Greasley. Claire schlug sich die Hand vor den Mund, und er lächelte sie an, scheu und stolz.
»Das ist unglaublich, Max!«
»Na ja, es ist eben noch nicht fertig.«
»Tja, ich bin sehr beeindruckt.«
»Es ist eigentlich nichts Besonderes.«
»Das ist sehr wohl etwas Besonderes. Hast du deiner Mutter schon einmal das Mutter-Thema vorgespielt? Ich glaube, sie wäre sehr gerührt.«
Max blickte finster drein. Er umklammerte seine Gitarre. »Sie ist meine Stiefmutter. Sie hat zu viel zu tun. Und sie mag Musik sowieso nicht.«
Claire hielt inne. Sie war Musiklehrerin und sonst nichts. An der St. Dominick’s gab es eine klare Aufgabenteilung: Die Lehrkräfte unterrichteten, und um das emo tionale Wohlbefinden der Schüler kümmerten sich die Vertrauenslehrer – die Hauseltern und die für die Internatsunterbringung zuständige Konrektorin. Wenn ein Schüler einem etwas Persönliches anvertraute, ein Pro blem, das seinen Seelenfrieden oder seine Schulleistungen beeinträchtigen könnte, war es Pflicht einer Lehrkraft, dem entsprechenden Vertrauenslehrer darüber Bericht zu erstatten und sich dann respektvoll zurückzuziehen.
Sollte Max noch etwas zu ihr sagen, irgendetwas, das vielleicht auf Ärger zu Hause hindeutete, würde sie ihm raten müssen, mit seinem Hausvater darüber zu reden.
Doch so funktionierten Beziehungen nicht, jedenfalls nicht im richtigen Leben. Menschen waren nicht bloß Lehrkraft oder bloß Vertrauenslehrer. Sie waren nicht entweder Schüler oder Kinder.
Sie war eigentlich nicht länger in der Schule geblieben, um ein Anschlagbrett zu dekorieren. Sie war hier, weil sie zu viel Angst hatte, um irgendwo anders zu sein.
»Tja«, sagte sie nach einer Weile, »du kannst jederzeit herkommen und es mir vorspielen. Ich würde gern mehr hören und dir helfen, wenn ich kann.«
Er sagte nichts, und sie trug die Zeichnungen zum Anschlagbrett und begann, sie aufzuhängen. Hinter ihr zupfte er eine Melodie, traf einen falschen Ton. Taktvoll ignorierte sie das gemurmelte Fluchen und wartete darauf, dass er es erneut versuchte. Es war halb sechs. Mittlerweile war Ben wahrscheinlich fertig. Wahrscheinlich befand er sich auf dem Weg zu seinem Wagen, ein Ultraschallbild in der Tasche, oder noch wahrscheinlicher in der Hand, weil er es eingehend musterte und jede Einzelheit genau studierte.
»Die scheren sich einen Dreck um mich«, sagte Max auf einmal, und in seiner Stimme schwangen so viel Wut und Schmerz mit, dass Claire sowohl seinen Hausvater wie auch ihren Mann vergaß, der das Bild von seinem Baby hielt. Sie ging zu Max und setzte sich ihm gegenüber.
»Wer denn?«, fragte sie sanft.
»Dad und Jemima. Dad ist immer auf der Arbeit oder in seinem Wahlkreis unterwegs und hat Gesprächstermine oder sonst was, und Jemima hat das Fitnessstudio und ihre Vereine und ihre Wohltätigkeitsorganisationen und ihre Haare. Sie schicken mich hier auf die Schule, damit sie sich nicht um mich kümmern müssen. Sogar Gitarre zu spielen habe ich in einem Scheißferiencamp gelernt, während sie nach Südafrika gefahren sind.« Hasserfüllt blickte er auf die Gitarre.
»Aber du bist gut auf der Gitarre.
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