All unsere Traeume - Roman
verloren. Wahrscheinlich sah sie aus wie jemand, der seinen Ehering verlieren würde.
Aufhören, dachte sie.
Ben blickte von seinem Papierstapel auf und lächelte ihr zu. »Tut mir leid, dass ich heute nicht sehr gesprächig bin«, sagte er. »Ich muss das alles bis morgen durchgehen.«
»Ist in Ordnung. Ich bin froh, dass du dir freinehmen konntest, um hier zu sein.« Abgesehen davon ist es leichter, seinen unrealistischen Tagträumen nachzuhängen, wenn du nicht redest.
»Ich würde es mir um nichts auf der Welt entgehen lassen. Die erste Gelegenheit, unser Kind zu sehen.«
Sie wusste, von welchem »unser« er sprach, und sagte auf der Stelle aus schlechtem Gewissen: »Es ist so schade, dass Claire nicht kommen konnte.«
»Es ist schwierig für sie, sich während der Schulzeit freizunehmen«, sagte Ben, auch wenn es nicht sehr überzeugend klang. Da Romily Claire seit fast zwei Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, hegte sie den Verdacht, dass mehr dahintersteckte. Doch Ben hatte kein Wort darüber verloren, dass Claire es sich anders überlegt hätte – oder dass Claire sie schlicht nicht ausstehen konnte. Er beharrte darauf, dass alles in Ordnung wäre. Wahrscheinlich, um sie nicht zu verletzen.
Und die traurige Wahrheit lautete, dass Romily sich besser fühlte, wenn Claire nicht dabei war. Abgesehen davon, dass derart sündige Gedanken sie befielen, die wahrscheinlich hormonbedingt waren und die sie wirklich unterdrücken sollte.
»Romily Summer?« Die Radiologieassistentin steckte den Kopf ins Wartezimmer, eine Akte in der Hand. Romily stand auf. Die Assistentin hatte kurze graue Haare. Sie könnte dieselbe Assistentin sein, die damals Romilys Ultraschall gemacht hatte, als sie mit Posie schwanger war. Wahrscheinlich war es dasselbe Zimmer gewesen, auch wenn sie sich nicht mehr sonderlich gut daran erinnern konnte. Zweifellos sahen alle Ultraschallräume ungefähr gleich aus.
»Legen Sie sich hin, Romily. Und das hier ist Daddy?«
»Ja«, sagte Ben, und Romily hörte den Stolz in seiner Stimme. Romily fand, dass es ein bisschen unheimlich war, den Mann »Daddy« zu nennen, als würde das Baby mithören oder als wäre er Romilys eigener Vater – aber sie wusste, dass Ben zum ersten Mal »Daddy« genannt worden war.
»Sie können hier an der Seite sitzen. Jetzt müssten Sie bitte Ihr Oberteil hochschieben, Romily.«
»Er ist nicht mein Ehemann«, erklärte Romily der Radiologieassistentin. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie das sagte, nachdem sie sich im Wartezimmer geradezu geaalt hatte in allen möglichen Fehldeutungen, aber hier und jetzt war es wichtig. Der Ordnung halber.
»Wir haben hier alle Arten von Familien«, sagte die Assistentin. »Oberteil bitte nach oben!«
Widerwillig zog Romily das T-Shirt nach oben. Ben hatte noch nie zuvor ihren nackten Bauch gesehen. »Es war künstliche Befruchtung«, sagte sie. »Ich bin eine Leihmutter. Ich werde das Baby nicht behalten.«
Die Assistentin wirkte völlig unbeeindruckt. »Möchten Sie, dass ich den Monitor wegdrehe, damit Sie ihn nicht sehen können?«
»Warum?«
»Manchmal sagen Frauen, die ihre Babys zur Adoption freigeben, dass sie den Ultraschall nicht sehen wollen, damit keine Mutter-Kind-Bindung entsteht.«
»Mit zehn Wochen sieht ein menschlicher Fötus wie eine Mischung aus ET und einer Kaulquappe aus«, entgegnete Romily. »Ich glaube nicht, dass ich dazu eine Beziehung aufbauen werde.«
»Ich schon«, sagte Ben.
Die Radiologieassistentin spritzte das lauwarme Gel auf Romilys Bauch. Wenigstens das hatte sich geändert. Sie hatte das Gel als eiskalt in Erinnerung. »Bei diesem Ultraschall geht es also darum zu bestimmen, in welcher Woche Sie schwanger sind und wann Ihr Baby wahrscheinlich auf die Welt kommen wird.« Sie berührte Romily mit der Ultraschallsonde und ließ sie über ihren Bauch gleiten.
Ben beobachtete den Bildschirm. Romily beobachtete Ben. Sie konnte genau den Moment sehen, in dem das Baby erschien, denn seine Augen weiteten sich, seine Gesichtszüge wurden vor Staunen weicher.
»Ist es das?«
»Ja. Hier ist der Kopf, hier ist die Wirbelsäule. Wie Sie sehen, ist der Herzschlag gut und stark.«
Er beugte sich näher zum Bildschirm. Romily spürte seine Körperwärme. »Hallo, kleines Wesen«, sagte er.
Romily folgte seinem Blick. Das Baby war eine weiße Gestalt, ein kleiner Körper in einem Meer aus Schwarz und Grau. »Es sieht aus wie du«, sagte sie.
»Kann ich eine Aufnahme haben? Ich
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