Alle auf Anfang - Roman
ihr direkt in die Augen. »Das geht.«
In seiner Hand das Telefon. Sein Finger auf der Taste. In diesem Moment läutet das Gerät. Kleine Melodie, Klavier. Entsetzt starrt Bela auf das Telefon.
»Gib her!«, schreit Alma, »gib das sofort her!«
Sagt nicht: bitte. Greift nach Belas Arm. Will die Hand fassen, das Telefon haben. Das spielt noch immer Klavier. Streckt er den Arm höher, höher. Hat sie nicht bitte gesagt. Hat sie nie wieder was zu entscheiden. Nie wieder.
Stille. So schrecklich schnell, dass sie beide einfrieren. Bela mit dem Telefon in der ausgestreckten Hand. Alma, eine Hand in Belas Arm gekrallt, eine nach dem Telefon ausgestreckt. Schmerzvolle Stille.
Langsam löst sich Almas Hand aus Belas Arm, senkt sich ihr ausgestreckter Arm, sinkt sie zu Boden. Kauert da und bebt am ganzen Körper.
Seine Hand mit dem Telefon zittert.
Urs betritt das leere Haus
Er hat das Auto in die Garage gefahren und vorsichtig, um niemanden zu wecken, das Tor heruntergelassen. Auch beim Aufsperren der Tür hat er aufgepasst, so gut wie keine Geräusche zu machen.
Nun ist Urs wahrlich keiner von denen, die das Gras wachsen hören, und bestimmt ist er durch die Situation, dass seine Frau gerade erst vor ein paar Stunden einen schweren Autounfall um Haaresbreite überlebt hat, nervlich äußerst angespannt, doch er kann sich des beunruhigenden Gefühls nicht erwehren, dass etwas anders ist im Haus. Die Stille ist anders. Bedrohlich.
Unsinn, sagt er sich, eine Stille kann ebenso wenig bedrohlich sein, wie sie besänftigend sein kann. Stille ist Stille, alles Weitere ist Interpretation. Dennoch ist er beunruhigt. Vorsichtig und hastig zugleich steigt er die Stufen hoch ins Obergeschoss und schleicht sich ins Zimmer der Kleinen. Das Bett findet er leer. Nicht, dass ihn das überrascht – er hat es erwartet, seit er die Stille wahrgenommen hat. Doch es trifft ihn auf eine Weise, die er nicht kennt: zwischen Magengrube und Zwerchfell. Die Luft bleibt ihm weg. Sinnlos, die Bettdecke zurückzuschlagen, er tut es trotzdem. Er sieht auch hinter dem Schrank nach und sogar im Schrank, aber die Kleine ist dort nicht versteckt, warum sollte sie auch, welches Kind spielt vor Morgengrauen mit sich selber Verstecken?
Sein Atem setzt aus. Er zwingt sich zur Ruhe. Sie muss ja irgendwo sein. Die Hand auf dem Herzen hastet er hinüber ins Elternschlafzimmer. Es ist leer, Claudias unberührtes Bett, seine leeren, zurückgeschlagenen Decken. Auch hier sieht er unsinnigerweise hinterm Schrank und im Schrank nach, irgendwas muss er tun, sonst galoppiert ihm sein Herz davon. Er beginnt zu rufen, ruft all ihre Kosenamen, Prinzessin, Dulcissima, Mutzelmäuschen, Engelchen. Doch er hört nichts als seine eigene Stimme. Rufend, lockend, brüllend durchkämmt er das ganze Haus. Immer hektischer, sein Herzschlag gibt das Tempo vor, schlägt ihm bis in die Kehle hoch, bis auf die Zunge, schlägt auf jedes Kissen, jede Schranktür, schlägt in den kleinsten Winkel hinein. Er merkt, wie er die Kontrolle verliert. Wie er das hasst: die Kontrolle verlieren. Ruhig, redet er sich ein, redet an gegen die Fahndungsfotos in seinem Kopf, ganz ruhig bleiben jetzt. Deine Frau liegt auf der Intensivstation, deine Nerven spielen verrückt, du wirst jetzt nicht auch noch dein Kind verlieren. Und tief hinter dem Trommelwirbel seines Herzens hört er eine sehr leise Stimme mahnen: Du hast einen Fehler gemacht. Hast dein Kind allein gelassen. Wie konntest du nur.
Schwindelig vor Angst greift er nach der Lehne des Küchenstuhls und stützt sich auf. Atmet tief ein. Wieder aus. Noch mal ein. Eine Lerche flötet. Viermal. Er schreckt hoch. Ein Vogel in der Küche. Sein Blick fällt auf die Uhr. Natürlich. Er selbst hat Claudia die Uhr mit den Vogelstimmen geschenkt. Das ist auch für die Kleine schön, hat er gesagt, die vielen verschiedenen Vogelstimmen, zu jeder vollen Stunde eine andere. Seit wann ist Fee fort? Welchen Vogel hat sie zuletzt gehört? Noch einmal holt er tief Luft. Die Nachbarin, fällt ihm ein. Natürlich. Sie wird bei der Nachbarin sein. So hat er es doch geplant. Die Nachbarin wird seinen Brief gefunden haben, herübergekommen und durchs Fenster geschaut, die Kleine suchend umhertappen gesehen und sie dann mit zu sich genommen haben. So muss es gewesen sein. Am besten, er geht gleich hinüber, dann hat er Gewissheit.
Von der Küche durchs Wohnzimmer, und beinahe ist er schon an der Haustür, als ihn herumreißt, was er soeben gesehen hat: Die
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