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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Zaplin
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»Was hast du eine rote Schnur um den Hals?« Ohne es selber zu merken, fasste Claudia sich an den Hals. Was war das für eine Macht, die dieser Anselm über sie besaß? Wenn sie mit Heike und Frank in der Kantine saß und von draußen, vom Gang her, Anselms Stimme zu hören war, fühlte sie sich gemeint, ohne verstehen zu können, was er sagte. Sie hätte ihm sogar einen Kaffee auf die Probebühne gebracht, obwohl sie das ansonsten niemals! unter keinen Umständen! als ihre Aufgabe betrachtete. Jetzt spielte er einen Walzer, und sie hatte das unwiderstehliche Bedürfnis zu tanzen. Zum Glück erschienen Frank und Heike, und sie konnte sich noch einmal beherrschen.
    »So pünktlich heute, Anselm?«, fragte Frank. Heike warf Claudia einen fragenden Blick zu. Claudia vertiefte sich in ihr Textbuch. Von draußen waren Stimmen zu hören. Die anderen für die Probe bestellten Schauspieler scherzten vor der Tür mit der Souffleuse, lachend kamen sie miteinander herein.
    »Das Wirtshaus«, verkündete Frank und begann, die Probebühne zu inspizieren. »Perfekt vorbereitet, Claudia.« Sie genoss sein Lob. »Woyzeck, Käthe, Wirt, Narr, zwei Leute. Alle auf Anfang.«
    Es ging los. Es ging um die Wahrheit. Anna, die die Käthe spielte, quälte sich auf der Suche nach einer Regung, einer Erinnerung. Bernd, der Wirt, brüllte mit Kommandostimme. Wahrhaftig wie ein Kind sprang der Narr über die Bühne und ließ sich jagen, immer wieder, bis seine Atemlosigkeit die richtige Stimmlage schuf. Wie Claudia das alles aufsog. Wie es sie begeisterte.
    Nur Anselm patzte andauernd. Der Text saß nicht, laut fuhr er die Souffleuse an, die schimpfte zurück. Das Szenische schien Anselm völlig vergessen zu haben. »Jetzt lass mich doch mal was Neues ausprobieren«, fuhr er Frank an, als der ihn zum wiederholten Male an die vereinbarten Gesten und Momente erinnerte. »Dann biete mir was an«, schlug Frank vor. Heike lehnte sich zurück. »Hat er’s wieder mal geschafft«, raunte sie Claudia zu.
    Anselm tigerte durch den Raum, griff sich an den Kopf, stieß Anna in die Seite, riss ihr den Probenrock vom Leib und schleuderte ihn in eine Ecke. »Käthe, du bist heiß«, sprach er langsam und sehr, sehr leise, »warum denn? Käthe. Du. Wirst. Auch noch. Kalt. Werden.« Mit einem Sprung griff er sich das Messer, das am Boden lag, und ließ die Klinge aufschnappen. Sein Arm schnellte vor. Die Messerspitze berührte die Schauspielerin am Hals.
    »Es ist gut«, sagte Frank.
    »Ich weiß«, erwiderte Anselm, zog die Messerspitze vom Hals aufwärts bis zur Wange. Anna war blass geworden.
    »Es ist gut, Anselm«, wiederholte Frank mit Nachdruck. »Wir bleiben bei der alten Version.«
    »Also doch nicht gut?« Anselm ließ das Messer sinken. Anna drehte sich um und ging auf Claudia zu: »Kann der Idiot für die nächste Probe bitte ein Plastikmesser bekommen?«
    »Lass sie in Ruhe«, fuhr Anselm Anna an, »sie kann nichts dafür, ich habe dieses Messer bei ihr bestellt.«
    »Schluss für heute!« Frank stand auf. »Heike, Claudia, lasst alles liegen, wir machen morgen genau hier weiter. Und, Claudia: Tausch bitte das Messer aus. Die Proberequisiten bestimmen nicht die Schauspieler.«
    Damit trat er auf Anselm zu und nahm ihm das Messer aus der Hand. Sie sahen sich beide lange an, als würden sie mit ihren Blicken etwas ausfechten.
    »Gehen wir noch auf ein Bier?«, fragte Bernd, der den Wirt spielte. Frank drehte sich um. »Einverstanden.«
    Im Hinausgehen schob Anselm sich dicht an Claudia. »Gib mir das Messer«, flüsterte er ihr ins Ohr. Und wieder konnte sie nicht anders, er war stärker. Mächtiger.
    In der Kneipe ergab es sich, dass er weit entfernt von ihr saß. Claudia debattierte mit Frank über den Dualismus der Büchnerfiguren, sie sprach mit Heike darüber, wie weit ein Regisseur bei der Suche nach dem Wahren in der Figur einen Schauspieler treiben darf, und immer wieder, immer wieder versuchte sie, einen Blick von Anselm einzufangen. Doch er sah sie nicht an, er hatte sich Anna zugewandt und sprach auf sie ein. Dabei strich er ihr über den Hals, über die Wange, als würde er Wunden verschließen wollen.
    »Und, Claudia?«, fragte Bernd neben ihr, »willst du immer noch Regisseurin werden?«
    »Ja«, bekannte Claudia. Sie bemühte sich angestrengt, nicht mehr in Anselms Richtung zu sehen und begann, Bernd in allen Farben ihre Vision von der Regiearbeit auszumalen. Immer mehr steigerte sie sich hinein, von Bernds Fragen angestachelt.

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