Alle auf Anfang - Roman
»Schmeiß die Uni, sofort«, hörte sie Anselm sagen. Auf der Stelle drehte sie sich nach ihm um und sah, wie er der Kellnerin winkte. Er hatte schnell getrunken, sein Glas war bereits leer, während die anderen noch genügend hatten. Trotzdem bestellte Anselm eine Runde für alle. Anna wollte von Frank eine ehrliche Antwort darauf, ob sie bis zum Premierentermin überhaupt fertig würden. Frank leerte sein Glas. »Bisher habe ich noch jede Produktion zum vereinbarten Premierentermin herausgebracht«, verkündete er, »Prost!«
Damit griff er nach einem der neuen Gläser, die die Kellnerin gerade auf den Tisch stellte. Claudia sah auf die Armbanduhr. In zwanzig Minuten würde ihre letzte Straßenbahn fahren.
»Dann wird es wohl diesmal das erste Mal sein«, stieß Anselm aus und sah Frank herausfordernd an.
»Eher besetze ich dich um«, erwiderte der Regisseur und hielt dem Blick stand.
»Mit wem denn?« Anselms Stimme klang kampfeslustig.
»Mit mir«, schlug Bernd vor. Alle lachten. Bernd zählte seit über dreißig Jahren zum Ensemble, seit gestern stand er auf der Besetzungsliste für das Weihnachtsmärchen, genau wie in den mehr als dreißig Jahren zuvor.
Anselm konnte nicht aufhören, in seinen Augen blitzte Streitlust. »Warum eigentlich nicht? Woyzeck als biederer Bahnbeamter.«
»Woyzeck ist Soldat«, bemerkte Heike.
»Das sind wir doch alle, oder?« Anselm hob sein Glas, und wieder tranken sie. Ein Blick auf die Uhr: Claudias Straßenbahn fuhr in zehn Minuten.
»Ich gehe jetzt lieber mal, muss noch Text lernen.« Anna stand auf.
»Täte dir auch gut, Anselm«, schlug Heike vor. Wütend sah er sie an. »Du bist so spießig, Heike, du wirst nie Regisseurin. Dramaturgin, ja, aber niemals Regisseurin.«
Er stand auf. »Zahlen!«
Die Kellnerin kam und kassierte ab. Frank legte den Arm um Anselm. »In zehn Jahren, mein Süßer, bist du entweder in München–Hamburg–Berlin oder du hangelst dich von Synchron zu Synchron. Es hängt von dir ab.
»Das glaubst du doch selber nicht«, schnauzte Anselm und schüttelte Franks Arm ab, und Claudia fragte sich, ob er das auf München–Hamburg–Berlin bezog oder darauf, dass er es in der Hand hatte. Als sie schließlich alle draußen standen, fuhr gerade Claudias Bahn um die Ecke und blieb an der Haltestelle stehen. Niemand außer ihr beachtete das. Die anderen verabschiedeten sich, Heike warf ihr noch einen warnenden Blick zu, als sie bemerkte, dass nur noch Anselm bei Claudia blieb. Doch Claudia tat so, als hätte sie das nicht bemerkt.
»Deine letzte Bahn, oder?«
Sie nickte. Sie hatte es so gewollt.
»Wenn du willst, kannst du bei mir übernachten.«
Hatte sie es so geplant? Sie war sich nicht sicher. Sicher war sie nur, dass sie die Wahrheit wissen wollte. Über ihn. Über sie und ihn.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Anselm wohnte nur wenige Straßen vom Theater entfernt in einem großen Mietshaus. Sie nahmen den Fahrstuhl. »Ist natürlich nicht aufgeräumt«, sagte er, während er aufsperrte, »auf Damenbesuch war ich nicht vorbereitet.« Claudia wehrte sich gegen das Wort »Heuchler« in ihrem Kopf.
Es war eine kleine Wohnung, eigentlich nur ein Zimmer mit Küchenzeile und winzigem, fensterlosem Bad daneben. »Irgendwann habe ich ein Haus auf dem Land«, erklärte Anselm, während er ihr alles zeigte, »mit Kirschbaum im Garten und einer Schaukel daran.«
»Für deine Kinder?«
»Für mich.«
Er zündete Kerzen an, legte Musik auf, holte Wein. »Oder willst du gleich schlafen?« Sie schüttelte den Kopf. Und wollte es doch. Und doch wieder nicht. Wollte es noch ein wenig hinauszögern. Er schenkte ein, reichte ihr ein Glas, sie wartete auf das obligatorische »Auf uns«. Doch stattdessen sagte er: »Weil wir Götter sind. Schöpfergleich. Herrscher über all unser Tun.«
»Von wem ist das?«, wollte sie wissen.
Er lachte. »Von niemandem. Von mir.«
Dann erzählte er von sich, von seiner Kindheit in der niedersächsischen Provinz, vom Urlaub mit den Eltern an der Nordsee, von einer Klassenfahrt nach London und seinem Wunsch, Punkmusiker zu werden. Dass seine Eltern darauf bestanden, dass er Klavier lernte und sein Abitur machte und dass sie noch bis zum Abschluss der Schauspielschule glaubten, er würde etwas anderes werden. »Etwas Anständiges.« Und er lachte und redete, und sie merkte nicht, dass sie von sich überhaupt nichts erzählte, und beide merkten nicht, dass die Weinflasche irgendwann leer war und Mitternacht lange
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