Alle auf Anfang - Roman
ist sie heimgefahren. Nein, sie ist in der Stadt geblieben. Hat eingekauft. Socken. Und dann?
Ist sie wirklich ins Theater gegangen, hat sie wirklich am Bühneneingang auf ihn gewartet, auf Anselm, oder hat sie das geträumt, in dieser Nacht, in diesem Bett? Anselm auf der Schaukel aus der Jahrmarktszene, oben im Schnürboden. Simsalabimbambasaladu.
Die Schwester ist zurück. Sie stellt einen kleinen Plastikbecher mit einer Tablette darin auf den Nachttisch. »Damit Sie weiterschlafen können«, sagt sie und deutet auf ein gefülltes Glas Wasser, das sie neben das Becherchen gestellt hat. »Bitte unzerkaut hinunterschlucken.«
Claudia nickt schwach.
»Brauchen Sie Hilfe? Soll ich mal kurz Ihr Rückenteil anheben?«
»Nein, danke«, flüstert Claudia, »ich komme zurecht. Gleich.«
Die Schwester sieht sie skeptisch an.
»Sind meine Beine …«, versucht Claudia noch einmal, doch die Schwester unterbricht sie.
»Dazu kann ich wirklich nichts sagen, da müssen Sie sich bis morgen gedulden. Genaueres weiß nur der Chefarzt. Vergessen Sie bitte die Schlaftablette nicht.«
Sie dreht sich um und verlässt das Zimmer. Claudia starrt den kleinen Becher an. Dann hebt sie den Arm an, streckt die Finger und stößt das Becherchen um. Die Tablette rollt heraus, rollt vom Nachttisch herab, fällt auf den Boden auf und rollt weiter. Sie kann jetzt auf gar keinen Fall schlafen. Sie muss sich erinnern.
Sie hörte Klavierspiel von der Probebühne
In den Händen eine Kiste mit Requisiten, blieb sie vor der geschlossenen Doppeltür stehen. Als ob in den Tonfolgen eine Stimme zu ihr sprach: Du bleibst draußen. Nein, das sagte die Stimme nicht, im Gegenteil. Trotzdem wagte sie sich nicht hinein. Er würde allein da drinnen sein. Hat er gehört, wie sie heute Vormittag zu Heike gesagt hat, dass sie früher kommen und die Probe vorbereiten würde, während Heike und Frank mit dem Bühnenbildner sprachen? Habe ich nicht gehört, sagte die Klavierstimme, bin ganz zufällig hier, jetzt komm schon rein. Sie musste da jetzt rein. Sie musste die Requisiten zurechtlegen. War das Chopin? Oder Schumann? Leise drückte sie die Klinke herunter.
Anselm saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Klavierhocker und bearbeitete die Tastatur. Er hat, so schien es ihr, das Tempo gewechselt, seit sie die Tür geöffnet hatte. Bestimmt hat er den Luftzug gespürt, der mit ihr in den Raum wehte. Dennoch drehte er sich nicht um. Sie wollte ihn nicht erschrecken. Also trat sie fest auf, dass die Dielen knarzten, und mit Schwung stellte sie die Requisitenkiste auf einen Stuhl an der Wand. Es gab ein schepperndes Geräusch, als das kleine Schnappmesser gegen die Weingläser schlug. Anselm aber drehte sich noch immer nicht um. Sein Spiel wurde weicher. Über Mollakkorden schlug er mit dem kleinen rechten Finger immer wieder zart einen ganz hohen Ton an. Es klang wie eine Frage. Sollte sie antworten? Sie nahm das Schnappmesser aus der Kiste und ließ es aufschnappen. Klick. Pling, antwortete sein kleiner Finger. Vorsichtig griff sie nach einem Glas und schlug mit der Messerklinge dagegen. Klong. Plingplangplung. Der kleine Finger hopste die Tastatur abwärts. Der Klavierhocker quietschte, als Anselm sich umdrehte. Mit dem Messer in der einen, dem Glas in der anderen Hand, blieb Claudia stehen und sah ihn an. Er erwiderte den Blick. Noch hingen die Klänge im Raum, das Klavier und das Glas. Eine Reihe Noten zwischen ihren Gesichtern. Mit deren Auflösen wandten sie sich ab, beide zugleich.
»Du hast mir das Messer mitgebracht«, sagte Anselm, dem Klavier zugewandt.
»Es ist echt«, erklärte Claudia, »du musst vorsichtig damit sein.«
Sie begann, die Requisiten im Raum zu verteilen. Bei der Probe sollten die Schauspieler sie gleich dort zur Hand haben, wo sie die Sachen für die Szene brauchten. Währenddessen hatte Anselm wieder begonnen zu spielen. Wilde Läufe flogen durch den Raum, es sah aus, als durchpflüge er die Tastatur. »Das Messer? Wo ist das Messer?«, rief er über die Töne hinweg. Claudia hielt inne, nahm das Messer und wollte es ihm schon bringen, als er weitersprach: »Ich hab es dagelassen. Es verrät mich! Näher, noch näher!« Es war sein Text. Claudia legte die letzten Requisiten zurecht, auch das Messer für Woyzeck, dann setzte sie sich an den Assistententisch und schlug das Textbuch auf.
»Warum bist du so bleich, Marie?«, zitierte Anselm. Seine Fingerbewegungen waren ruhiger geworden, sein Spiel klang jetzt wie eine Ballade.
Weitere Kostenlose Bücher