Alle auf Anfang - Roman
vorüber, und als es ihnen auffiel, zögerten sie trotzdem noch den Moment, ins Bett zu gehen, hinaus, und nicht deshalb, weil Anselm dazu das Sofa, auf dem sie saßen, erst in ein Bett verwandeln musste.
Irgendwann aber tat er es. Rücken an Rücken zogen sie sich aus, legten sich zueinander, umschlangen einander, suchten sich. Vergeblich.
»Ich bin besoffen«, versuchte Anselm halbherzig eine Erklärung, drehte sich um und schlief tatsächlich auf der Stelle ein.
Claudia aber lag wach, bis es hell wurde, und dachte an das Messer, das Anselm in seiner Hosentasche barg. Waren sie Götter? War es ein Spiel? Und warum war, wenn sie spielten, Gewalt im Spiel? Sie konnte es nicht ergründen und schlief darüber ein, und als sie am Morgen erwachte, war sie allein.
4
AM NÄCHSTEN MORGEN
Bei Sonnenaufgang erreichen sie Bensersiel
Anselm hält am Fährhafen.
»Wir sind da«, sagt er. Jasper ist eingeschlafen, den Kopf in den gegen die Scheibe gepressten Arm gelegt. Sein Mund steht ein bisschen offen, seine Wange ist gerötet, und er sieht jetzt doch sehr viel jünger aus, als Anselm zunächst vermutet hat. Fast scheut er sich, ihn zu wecken. Noch einmal nistet sich der Gedanke bei ihm ein, dass er längst einen Sohn haben könnte. Er versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, von der Probe nach Hause zu kommen und es säße jemand schon dort, über Hausaufgaben, vorm Computerspiel. Ob er helfen könnte? Mitspielen? Selbst wenn er sich aus dem Staub gemacht hätte, die Vaterrolle bliebe ihm doch. Etwas von ihm, seine Augen, seine Ausgelassenheit, würde bleiben.
Er lehnt sich im Sitz zurück und sieht in den Morgenhimmel. Glaubt, das Meer schon durch die geschlossenen Fenster zu riechen. Als er in Jaspers Alter war, hatte das Meer geholfen. Die Sommer auf der Insel diesem Hafen gegenüber waren die besten Momente in seinen Erinnerungen.
Sanft stößt er den Jungen an die Schulter.
»Wir sind am Meer.«
Jasper räkelt sich, streckt die Beine aus, stöhnt und schlägt die Augen auf. Durch die Windschutzscheibe sehen sie einen neblig grauen Himmel und davor das verschlossen wirkende Fährhaus. Wie Trockennebel zieht der Lichtstreifen von unten auf, wie ein Untertitel in einem fremdsprachigen Film.
»Was soll das sein?«, fragt Jasper.
Anselm zuckt die Schultern. »Das Meer?«
Fast gleichzeitig lösen sie den Sicherheitsgurt, steigen aus, gehen hinüber zum Fährhaus. Dort ist alles dunkel. Eine einfache Barriere versperrt den Weg zum Anleger. Jasper stützt sich an dem Eisengestell ab und sieht auf die Anlegebrücke.
»Da lang.« Anselm geht links am Fährhaus vorbei, und Jasper folgt ihm. Sie kommen zum alten Hafen. Ein paar Krabbenkutter dümpeln im niedrigen, schwarzen Brackwasser. Es stinkt nach Diesel und totem Fisch. Kein Mensch ist außer ihnen unterwegs. Schweigend gehen sie ein Stück auf der Kaimauer. Links von ihnen breitet sich der Strand aus. Bunte Strandkörbe stehen im weißen Sand, davor ist meterweit nichts als Schlick.
»Ebbe«, sagt Anselm. Er springt von der Mauer und steuert einen Strandkorb an. Jasper hüpft hinterher, streift die Schuhe ab, stapft durch den Sand an den anderen Körben vorbei und watet durch den Schlick auf den grauen Horizont zu.
»Wo ist das Wasser?«, ruft er.
»Ebbe«, wiederholt Anselm hilflos. Er hätte jetzt gern einen Kaffee. Müde sieht er zu, wie der Junge immer weiterwatet, wie er irgendwann stehen bleibt, die Hände in den Taschen, mit dem Rücken zu ihm, die Füße im feuchten Sand vergraben. Man müsste jetzt eigentlich nur warten, das Wasser käme schon. Aber Anselm weiß, dass es nicht so kommen wird, dass sie hier am Ende ihrer Fahrt sind und jetzt nur noch die Rückkehr ansteht.
Jasper dreht sich um. »Wieso geht sie da auf?«, ruft er und deutet auf das flache Land hinter den Strandkörben. Anselm beugt sich hinaus. Der Himmel über den Dächern von Bensersiel hat sich eingefärbt, nicht wirklich rot, einfach nur heller.
»Weil da eben Osten ist«, murmelt er und weiß, dass der Junge es nicht hören kann. Mit zusammengezogenen Schultern, den Kopf vorgebeugt, die Hände noch immer tief in den Taschen, kehrt Jasper zurück. Vor Anselms Strandkorb bleibt er stehen, stößt die Fußspitze neben seinen liegen gebliebenen Schuhen in den Sand. »Ich habe mir das ganz anders vorgestellt.«
Anselm zuckt die Schultern. »Glaub mir, ich auch.«
Über ihnen schreit eine Möwe.
Der Vogelschrei weckt Fee
Ein riesiges Tier kommt und will sie holen. Sie schreckt
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