Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Zaplin
Vom Netzwerk:
hinunter in ihr Arbeitszimmer. Leise setzt sie sich an den Schreibtisch. Ihr Bildschirm ist schwarz, aber sie weiß, wie sie ihn zum Leben erweckt. Das Fenster mit der E-Mail erscheint. Ohne die fremden Wörter noch einmal anzusehen, klickt sie den Sendebefehl an. Das Fenster verschwindet. Auf dem Bildschirm liest sie den Satz: »Ihre Nachricht wurde gesendet.«
Anselm steht vor Claudias Zimmertür
    Das ist nicht nur Müdigkeit, die da auf ihm liegt mit all den Gewichten einer durchfahrenen Nacht. Das ist viel schwerer: zu wissen, dass er nun tatsächlich alt ist. Dass die Anzahl der möglichen Veränderungen seines Lebens schrumpft. Mit beiden Händen versucht er, sich die Nacht aus dem Gesicht zu streichen, ehe er schließlich klopft. Eine Kinderstimme ruft: »Herein!«
    Verwirrt drückt Anselm die Klinke herunter. Vor ihm stehen ein kleines Mädchen, das ihn neugierig mustert, und ein Mann in seinem Alter mit den Augen des Kindes. Ablehnung liest Anselm darin. Sekunden nur stehen sie voreinander, und doch scheint es, als würden sie einander nie vorbeilassen. Im Türrahmen stehend, sucht Anselm die Reihen der Betten ab, am Fenster beginnend. Nach zwei fremden, ihm zugewandten Gesichtern entdeckt er Claudia. Sie ist blass. Dennoch legt sich ein Leuchten auf ihr Gesicht, das auch der Mann, der ihm im Weg steht, bemerkt.
    »Besuch für dich, Claudia«, sagt er. Es klingt wie eine Frage. Er nimmt das Kind an der Hand und schiebt sich an Anselm vorbei nach draußen.
    Jetzt steht er im Raum. Sieht die Neugierde in den Gesichtern der beiden fremden Frauen. Stopft die Hände in die Taschen und knetet den Autoschlüssel.
    »Hallo, Anselm.« Claudia sagt es mit leiser, warmer Stimme. Er geht einen Schritt auf ihr Bett zu, bleibt wieder stehen. »Nehmen Sie sich doch einen Stuhl«, sagt die Ältere der beiden Fremden, und die Jüngere deutet auf den kleinen Tisch an der Längswand gegenüber der Bettenreihe. »Die sind beide frei.« Unter den Blicken der beiden Frauen holt Anselm sich einen Stuhl. Eigentlich ist ihm die Situation vertraut, dass er für alltägliche Handlungen Zuschauer hat. Und vielleicht würde es ihm sogar gelingen, dieses Mini-Publikum zum Applaudieren zu bewegen. Stattdessen setzt er sich mit dem Rücken zu den beiden Frauen und lässt den Vorhang fallen.
    Claudia lächelt ihn dankbar an. Er nimmt ihre Hand und umschließt sie mit seinen Händen. In ihren Augen lesen sie einander das Wissen darüber ab, dass ihr Schweigen von unschätzbarem Wert ist und dessen Ende ihnen Schweres abverlangen wird. Eine Verbindung auf Zeit. Anselm hätte es genügt, diesen bemessenen Rahmen lang schweigend an Claudias Bett zu sitzen, ihre Hand irgendwann loszulassen und zu gehen. Es wäre ein Abgang nach seinem Geschmack gewesen, einer, der ihm das Zurückkommen jederzeit ermöglicht hätte.
    Doch Claudia glaubt an Worte. »Ja, ich mag Feuer«, sagt sie, »willst du uns einen Kamin einrichten?«
    Er fühlt ihre kalte Hand in seinen Händen. Er hat ihr nichts versprochen. Hat noch nicht gewürfelt, noch keine Karten abgelegt. Kann nicht anders, schließt die Augen. Sieht die nachtschwarze Fahrspur vor sich, den metertiefen Ebbestrand, das Neonlicht der Abflughalle. Weiß im selben Moment, dass er Claudia nichts davon erzählen wird.
    »Was ist denn bloß passiert?«, fragt er.
    Sie sucht in seinem Gesicht. »Mit uns, meinst du? Oder mit mir?«
    Vorsichtig tastet er ihre Finger einzeln ab. »Ich bin dir nachgefahren«, sagt er, »ich wollte es jedenfalls, wollte dir bis nach Hause folgen. Aber dann kam der Verkehrshinweis, dass die Autobahn gesperrt ist.«
    Ihre Finger bleiben kalt. Es ist aussichtslos, sie wärmen zu wollen.
    »Weißt du noch«, sagt sie mit einer Stimme, die ihr selber fremd zu sein scheint, so erschrocken sieht sie aus, »weißt du noch, als du mir damals das Messer zugeworfen hast? Weißt du noch, was du von mir verlangt hast?«
    Sie sieht ihm direkt in die Augen. Er kann ihr nicht ausweichen. Er nickt.
    »Ich werde nie wieder laufen können, Anselm.«
    Sie gestattet ihm nicht, den Blick zu senken. Er hat keine Ahnung, was er jetzt sagen soll. Und als, mit der Verspätung einer verschobenen Tonspur, Claudias Worte erst nach und nach und einzeln zu ihm vordringen, versteht er erst, warum sie das Messer erwähnt hat. Langsam schüttelt er den Kopf. Niemals würde er das können, niemals.
    »Dann hol mich hier raus, Anselm«, sagt sie und fasst seine Hand fester, »an den Kamin. Mir ist so kalt.«
    Er

Weitere Kostenlose Bücher