Alle auf Anfang - Roman
geht es ja auch hier ums Kommen und Gehen, denkt Urs und findet sich erstaunlich philosophisch. Am Empfang erkundigt er sich, ob Claudia noch auf der Intensivstation sei und erhält die neue Zimmernummer sowie das Stockwerk der chirurgischen Station.
Die Kleine hat sich beruhigt. Er hält sie an der Hand, sie drückt sich an sein Bein. Das ist wieder seine Tochter, sein Kind, das sich in fremder Umgebung fürchtet. Er betrachtet ihr kleines blasses Gesicht, das so vertraut ist. »Alles wird gut«, sagt er.
Sie nehmen den Fahrstuhl. Außer ihnen ist niemand darin. »Weißt du«, versucht Urs in dem metallenen Kasten zu erklären, was ihm daheim in der Reihenhausküche nicht gelungen ist, »weißt du, die Mama musste heute Nacht operiert werden, und der Schnitt, der blutet noch, darum hat sie ein Beutelchen am Bett, darin wird das Blut aufgefangen, aber es ist nicht schlimm, die Ärzte kümmern sich um sie, du musst keine Angst haben.« Er hat hastig gesprochen, fast atemlos, und jetzt hält der Fahrstuhl auch schon. Erschrocken sieht das Kind ihn an. »Alles wird gut«, wiederholt er und zieht sie an der Hand den neonröhrenhellen Gang entlang bis zur Zimmertür, deren Nummer man ihm beim Empfang genannt hat. Er klopft und sieht sein Kind an. Das Gesicht des kleinen Mädchens ist in diesem künstlichen Licht noch blasser. Urs drückt die Klinke herunter. Fee schüttelt den Kopf. Trotzdem treten sie ein.
Mit einem knappen Blick entdeckt Urs seine Frau im ersten Bett vorn, grüßt mit knappem Nicken die zwei fremden Frauen und schiebt das Kind vor sich her zum Fußende von Claudias Bett. Sie ist wach und lächelt schwach, als sie den Besuch erkennt. Fee will auf sie zuspringen, doch Urs hält sie zurück.
»Lass sie doch«, sagt Claudia tonlos.
»Ich dachte nur …«, beginnt Urs, bricht wieder ab. Das Kind umklammert das Metallgitter am Fußende des Bettes. »Ist das, weil ich nicht geschlafen habe?«, fragt es. »Weil ich weggelaufen bin?«
»Nein, Fee«, sagt Claudia und schafft es, ihrer Stimme ein wenig Festigkeit zu verleihen, »daran ist die Mama ganz allein schuld.« Sie sieht Urs an. »Wieso weggelaufen?«
Er winkt ab. »Nur ein kleines Missverständnis. Wie geht es dir?«
Sie schlägt die Augen nieder. Er steht etwas unbeholfen zwischen Bett und Einbauschrank. »Hast du mit dem Arzt gesprochen?«, fragt sie, so leise, dass er kaum etwas versteht. Er macht einen Schritt auf sie zu. Das Kind hält sich noch immer am Fußende fest. »Haben sie dir gesagt …«, versucht es Claudia noch einmal. Er nickt. Sie kann ihn nicht anschauen. Er kann nicht dorthin schauen, wo unter der Bettdecke ihre Beine sind. Er muss so sein wie sonst.
»Ich habe mir schon Gedanken gemacht«, sagt er, »wir haben doch die Versicherung. Wir lassen das Haus umbauen, das Schlafzimmer ins Erdgeschoss, dann kann dir die Treppe egal sein. Und vielleicht reicht es auch noch für ein größeres Auto, jetzt, wo wir sowieso ein neues brauchen. Eins, wo der Kofferraum groß genug ist für einen …« Er kann das Wort nicht aussprechen. Sie dreht das Gesicht von ihm fort. Was, um Himmels willen, hat sie da im Theater gesehen? Er beginnt, das Wort zu hassen. Theater. Das Haus, vor dessen Tür Claudia ihn immer hat stehen lassen. Nie konnte er es betreten.
»Komm her zu mir, Fee«, bittet sie und streckt beide Hände nach dem kleinen Mädchen aus. Das Kind löst sich vom Metallgitter und streift eng an der Bettkante entlang, schiebt sich zaghaft hinauf. Claudia legt den Arm um sie, zieht das Köpfchen zu sich und drückt die Nase ins Haar des Kindes.
»Auf einem Baum ein Ku-u-kuck«, beginnt sie leise zu singen. Ihre Stimme ist belegt, trotzdem singt sie weiter, rau und bebend, »auf einem Baum ein Ku-u-kuck saß.« Langsam wird die Stimme fester. »Da kam ein junger Jä-ä-ger«, fällt das Kind mit ein, laut und sicher, übernimmt rasch die Führung, »da kam ein junger Jä-ägersmann. Der schoss den armen Ku-u-kuck…« Sie singen zusammen, als habe ihnen jemand eine Aufgabe gestellt. »…schoss den armen Ku-u-kuck tot. Und als ein Jahr vorü-ü-ber …«
Urs wirft einen entschuldigenden Blick auf die beiden anderen Patientinnen, die die Darbietung verfolgen, erstaunt die eine, verstört die andere. »… da war der Kuckuck wie-ie-der da!« Fast trotzig klingt Claudias Stimme am Schluss.
»Was hast du denn gemacht?«, fragt die Kleine. Claudia nimmt das Gesicht des Kindes in beide Hände. »Was meinst du?«
»Dass du selber schuld
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