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Alle Familien sind verkorkst

Alle Familien sind verkorkst

Titel: Alle Familien sind verkorkst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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Teller voller Zitronenschnitzel zurück. »Lasst uns anfangen.« Sogleich ließen er und Cissy den Blick über die verschiedenen Gerichte schweifen, als handele es sich um ein Büfett für fünfzig Personen. Beide nahmen sich nur winzige Portionen, was Janet noch mehr verwirrte. Sie fragte Florian: »Und woher kennen Sie beide sich?«
    »Freunde von mir haben mir von Cissy erzählt, und da musste ich sie einfach kennen lernen.«
    »Was haben Ihre Freunde denn über sie gesagt?«
    »Sie haben mir erzählt, dass Cissy aus der Stadt Mubende kommt, fünfzig Meilen westlich von Kampala in Uganda. Sie hat fast zwanzig Jahre lang als Prostituierte gearbeitet und mindestens 35000 -mal ungeschützten Sex gehabt. Sie hätte sich vielleicht 15 000 -mal mit HIV infizieren können, und dennoch zeigt sich in ihrem Blut weder eine Spur vom Virus noch von seinen Antikörpern.«
    Cissy machte ein ziemlich angesäuertes Gesicht, als sie das hörte. Sie sagte: »Florian, es schickt sich nicht, Geschäftliches am Essenstisch zu erörtern.«
    »Cissy, Janet gehört für mich fast zur Familie. Es geht hier nicht um Geschäfte. Ich will sie nur umfassend über dich informieren, meine Gute.«
    »Also gut. Aber kein Wort vom Geld. Das verbitte ich mir.«
    Florian wandte sich Janet zu. »Also: Forscher des Center for Disease Control in Atlanta haben Cissy vor ein paar Monaten in ihrer Hütte am Straßenrand entdeckt. Sie stießen im Zuge routinemäßiger epidemiologischer Untersuchungen auf sie. Vor zwei Wochen wurde sie nach Atlanta gebracht, wo man sie in ein großes, nüchternes Motelzimmer aus Schlackenbeton-Formsteinen einquartierte, das aussah wie ein College-Schlafsaal in Ohio um 1967. Zum Glück habe ich überall meine Späher, und so erfuhr ich von Cissys misslicher Lage. Vor zwei Tagen bin ich nach Atlanta gereist, bewaffnet mit zwei Kleiderstangen voller Klamotten, die ich geradewegs von der Seventh Avenue mitgebracht hatte - die exotischsten und teuersten Sachen, die in ganz Manhattan zu haben waren - sowie auf Seidenbänder gehefteten funkelnden Harry-Winston-Juwelen. Cissy hatte die Wahl - Schlackenbeton-Schlafsaal oder Versace. Und so habe ich sie gerettet.«
    »Sie haben Cissy dem Center for Disease Control gestohlen}«
    »›Gestohlen ‹ ? Gute Güte, nein«, sagte Florian. »Und Janet, bitte hören Sie auf, so spießig zu sein. Das ist äußerst unvorteilhaft. Es steht Cissy frei zu gehen, wann immer sie will. Stimmt's, Cissy?«
    Cissy sagte: »Mein Zimmer in Atlanta war keinen Deut besser als ein Besenschrank. Es war eine Beleidigung.« Sie wandte sich Florian zu: »Ich werde in Kürze ein Fingerschälchen benötigen.«
    Florian wandte sich ihr zu: »Cissy, gib mir deine Hand.« Er nahm Cissys mit Grillsauce befleckte rechte Hand. »Janet, geben Sie mir Ihre rechte Hand - über dem Tisch - so.«
    »Ich -«
    »Vertrauen Sie mir, Janet.« Janet überließ Florian ihre Hand.
    »Gut.« Er nahm ein Steakmesser, sah Janet an, zog eine Augenbraue hoch und ritzte ihre Haut an.
    »Autsch. Florian, was soll -?«
    »Schhhhhhht.« Dann nahm Florian Cissys Hand und schnitt auch ihr einen kleinen Schlitz in die Handfläche. Er blickte zwischen den beiden Frauen hin und her, dann presste er ihre blutenden Hände zusammen und umklammerte sie fest.
    Cissys Hand war so warm und trocken, wie schwer es ist, sich vorzustellen, dass darin eimerweise warmes, kraftstrotzendes Blut fließt, aber Cissys Blut floss tatsächlich und tropfte auf die Tischdecke. Janet beobachtete, wie es zwischen den beiden aneinander geschmiegten Händen hervorsickerte.
    Florian sagte: »Ich werde von einundzwanzig bis zweiundachtzig zählen, Janet. Das sind zweiundsechzig Sekunden. Zweiundsechzig Sekunden dauert es, bis Blut auf einer offenen Wunde gerinnt.
    »... einundzwanzig ... zweiundzwanzig ... dreiundzwanzig ... vierundzwanzig ...«
    Ist das hier das, was ich denke?
    »... vierundfünzig ... fünfundfünzig ... sechsundfünfzig ...« Das kann nicht sein.
    »... neunundsiebzig ... achtzig ... einundachtzig ... zweiundachtzig.«
    Tatsächlich. Es ist wahr.
    »Löst eure Hände voneinander.«
    Cissy sah Janet an. »Sie werden eine frische Serviette brauchen, meine Liebe.«
    Janet war sprachlos. Ihre Hand schwebte über dem Essen in der Luft.
    Florian sagte: »Sehen Sie mich an, Janet.«
    Janet schaute Florian an, aber die Farben und Formen im Raum verschwammen wie ein Fernsehbild.
    »Es ist jetzt weg, Janet.«
    »Weg?«
    »Ja. Keine Pillen mehr. Kein Virus mehr.

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