Alle Familien sind verkorkst
Tausend-Watt-»Ich will ein Kind von dir«-Gesicht aufzusetzen oder sich seines Standard-Aufreißspruchs (»Ich weiß, was Sie jetzt denken, und es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«) zu bedienen. Stattdessen manövrierte er sich auf den Stuhl neben ihr. Wie ein Border-Collie saß er da und wartete, hoffte, betete, dass sie einen Stift oder einen Zettel fallen lassen würde, damit er sich darauf stürzen und ihn ihr zurückbringen konnte. Diese Frau erweckte in ihm ein Gefühl kindlicher Hingabe, und dabei wusste er noch gar nichts über sie.
Sie ließ einen Stift fallen. Zack! Im Nu hatte er ihn zurück auf ihr Pult befördert. Sie musterte ihn kühl: »Danke.« Sie spielte nicht die Unnahbare, sie spielte einfach gar nicht.
Die Kursteilnehmer wurden aufgefordert, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Debbie, die den Workshop leitete, sagte: »Wir haben ein neues Mitglied. Wade. Wade - erzähl den anderen deine Geschichte - so weit du magst.«
»Ich weiß nicht, ob es da viel zu erzählen gibt«, sagte Wade. »Ich meine, über mich und mein Leben und wie ich dieses Zeug gekriegt habe.«
»Bitte, Wade«, sagte Debbie. »Keine Euphemismen. Es heißt HIV.«
»Also gut, HIV. Ich bin hetero, und ich habe es nie mit einem Mann getrieben, nicht mal in einem Dreier.«
Viele der rund zwanzig Kursteilnehmer kicherten.
»He, was soll das - wieso sollte ich mich zu so einem Kurs durchringen und dann lügen? Die Sache ist die: Ich habe früher ziemlich viel in der Gegend herumgevögelt. Das war mein Leben. So habe ich immer erreicht, was ich wollte. Ich kenn diese reichen Kids, die in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Tag arbeiten mussten, weil sie immer bekamen, was sie wollten. Nun ja, statt Geld war es bei mir - tja - wie soll ich das sagen, ohne wie ein Arschloch zu klingen - die Art, wie ich mit Frauen umging.«
Wieder Gekicher. Debbie mahnte die Gruppe zur Ruhe.
»Jedenfalls habe ich durch Zufall von meiner Infektion erfahren. Durch den absurdesten Zufall der Welt.« Wade erzählte - teilweise ein wenig überspitzt - die Geschichte von seiner Schussverletzung. Die Gruppe lauschte stumm. Die Kuriosität des Geschilderten schlug sie in ihren Bann. »Das war's. Ich habe dieses Virus in meinem Körper. Es wird nie wieder verschwinden. Zurzeit kann ich nicht arbeiten - eigentlich wollte ich in diesem schäbigen Spielkasino auf der anderen Seite des Highways Hockey spielen, aber das geht jetzt nicht. Die Monate ticken dahin. Ich habe einfach ... keine Ahnung, was ich tun soll.«
Schweigen.
»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte Beth. »Wie geht es ihr damit? Habt ihr viel miteinander darüber geredet?«
»Ein bisschen. Ich fühle mich wie der beschissenste Sohn der Welt. Sie tut, als sei das keine Katastrophe, aber das ist es wohl, wie ihr wisst.«
Die Gruppe setzte die Sitzung fort und diskutierte diverse mehr oder weniger akute medizinische Probleme. Neue Behandlungen, Medikamente und Diäten wurden besprochen, und dann ging die Sitzung neben der Küche der Klinik, wo alle Haferflockenkekse mit Rosinen aßen und spülwasserähnlichen Kaffee tranken, zu Ende. Wade schob sich an Beth heran und fragte sie, wie lange sie schon mit HIV lebe. »Drei Jahre. Ich war Junkie, aber jetzt bin ich clean.«
»Ja?«
»Ja. Ich habe Gott gefunden. Mir gefällt zwar nicht, wie anmaßend das klingt, aber es stimmt - ich habe Ihn tatsächlich gefunden, meine ich. Er sorgt dafür, dass ich nicht den Verstand verliere, ein Nebeneffekt, mit dem ich nie gerechnet hätte.« Andere Gruppenmitglieder scharten sich um Wade; Beth verschwand.
Die folgende Woche zog sich hin, während Wade auf das nächste Gruppentreffen wartete. Als Beth am folgenden Dienstagabend aufkreuzte, wirkte sie sichtlich mitgenommen; offenbar stimmte irgendetwas nicht.
»Beth«, sagte Debbie. »Du siehst gestresst aus. Hattest du einen schlechten Tag?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich meinen Tag bezeichnen soll.«
»Wieso?«
Beth zögerte. »Ich habe im Laufe der letzten beiden Wochen einige Tests machen lassen. Aber die vollständigen Ergebnisse sind erst heute Morgen eingetroffen. Es hat sich herausgestellt -« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe kein AIDS. Ich bin noch nicht mal in Kontakt mit dem HIV-Virus gekommen. Niemand hat meinen positiven Befund von vor drei Jahren je überprüft, und jetzt stellt sich heraus, dass er falsch war. Ich bin ... negativ.«
Es folgte ein langes Schweigen.
Debbie sagte: »Na dann - herzlichen Glückwunsch,
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