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Alle Familien sind verkorkst

Alle Familien sind verkorkst

Titel: Alle Familien sind verkorkst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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irgendjemandem, mit dem sie sich anfreunden konnte: Supermarktkassierer, Kfz-Mechaniker, Teppichreiniger oder die Teilnehmer an den Kursen im Gemeindezentrum, die sie belegte (keltische Kalligraphie, »Schlank mit Sechzig«; »Die immer währende Relevanz von Feng Shui«; Wiederbelebungstechniken; Spitzenklöppeln). Letzten Endes war das Internet der Ort, an dem sie sich mit Menschen treffen konnte, ohne sie gleich durch den verzagten Ausdruck in ihren Augen oder den Makel des Vermutlich-nie wieder-von-jemand-Neuem-geliebt-Werdens zu vergraulen. Im Internet wussten die Leute nicht, dass sie sich tagelang nur von englischen Crackern mit Paprikafrischkäse ernährte oder dass sie zwanghaft ihre Krähenfüße liebkoste.
    Wenigstens als sie angeschossen worden war, hatte sie einen kurzen und beschämend befriedigenden Ansturm von Aufmerksamkeit erlebt, doch damit war es ziemlich schnell wieder vorbei. Aber dann, mit ihrer HIV-Diagnose, war eine Flut von Menschen aus einem erstaunlich breit gefächerten und warmherzigen Teil der Gesellschaft über sie hereingeschwappt. Die Erkenntnis, dass der Tod jederzeit kommen konnte, baute schnell viele der althergebrachten Hemmschwellen zwischen ihr und anderen ab, und sie fand heraus, dass sie ein Talent dafür hatte, gesellige Selbsthilfe-Abendessen zu organisieren. Ungefähr ein Jahr nach ihrer Diagnose hatte Sarah ihre Mutter angerufen und sie gefragt, was sie in letzter Zeit so gemacht habe. Janet stellte fest, dass sie, so weit sie sich erinnern konnte, lange nicht mehr so viel zu erzählen gehabt hatte. Sie berichtete, dass am Abend vorher ein Essen mit HIV-Positiven bei ihr stattgefunden hatte, zu dem jeder ein Gericht mitbringen musste. Sarah fragte, wer dagewesen sei, und Janet sagte: »Mahir zum Beispiel. Er ist zwanzig und Perser, und für seine Familie existiert er nicht mehr. Er hat Falafel mitgebracht. Dann Max - er ist einundsiebzig und wurde durch eine Bluttransfusion bei einer Herzoperation infiziert. Er hat seine Ex-Freunde von der Ehrenlegion über ihn reden hören, und jetzt steckt er einer Art ›0 mein Gott, was habe ich aus meinem Leben gemacht? ‹ -Krise. Er hat ein Herz aus reiner Butter, und er kam mit zwei Tage alten Donuts an. Sheila ist in meinem Alter, sie ist lesbisch, und ihre Freundin, mit der sie achtzehn Jahre zusammen war, hat sie nach der Diagnose verlassen. Sie hat sich gestern die Haare abrasiert und war mies gelaunt. Sie hatte diese verdauungsfördernden amerikanischen Kartoffelchips dabei, und wir haben alle herzlich gelacht. Wally ist unser einfühlsamer Quotenschwuler ‹ . Er wollte hinterher mit uns in die Innenstadt gehen, um an Straßenecken Kondome zu verteilen, aber ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin.«
    »Was hast du gekocht?«
    »Das Gleiche wie immer - Lasagne, Salat und Knoblauchbrot.«
    »Habt ihr euch gut amüsiert?
    »Amüsiert? So betrachte ich das nie, aber doch, es war ein sehr schöner Abend. Das sind unsere Treffen immer. Wir müssen so tun, als seien wir tapfer, aber dann verliert einer von uns die Beherrschung, und ein anderer wird weinerlich, und plötzlich sitzen wir alle im selben Boot. Mir gibt es das Gefühl, lebendig zu sein. Na, wenn das nicht paradox ist.«
    Aber sie war immer noch einsam, und sie weigerte sich, mit ihrer Tochter oder irgendjemandem sonst darüber zu reden. Das Wort auch nur auszusprechen hätte ihrer Situation eine gewisse Endgültigkeit verliehen, und sie wusste, das konnte noch nicht alles sein.

16
    Wade hatte Beth auf der Diabetes-Station im Krankenhaus von Las Vegas kennen gelernt, als er zum ersten Mal einen Positiv-Denken-Workshop für HIV-Positive besuchte. Das erste, was ihm an ihr auffiel, war, was sie anhatte - ein äh ... Muumuu? Er wusste dieses seltsame Gewand nicht recht einzuordnen - ein braves langes Blümchenkleid, das geradewegs einer High-School-Aufführung von Oklahoma! entsprungen zu sein schien. Doch die Frau darin war alles andere als ein apfelbäckiges Bauernmädchen. Sie sah knochig und seltsam verbraucht aus, als wäre sie ihr halbes Leben auf Speed gewesen. Beths altmodisches Kleid schien Wade der Firnis einer inneren Umkehr zu sein. Sie war an dem Punkt gewesen, an dem er jetzt war, aber sie hatte einen Ausweg gefunden.
    Beim ersten Anblick hatte er das Gefühl, sein Herz würde zerschmettert und im selben Moment zusammengefügt werden. Er war entschlossen, diese Frau kennen zu lernen, doch er maß dem Ganzen zu viel Bedeutung bei, um sein

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