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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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schimmerte rötlich, und die Teller wurden unentwegt gefüllt und geleert.
    Der Vikar warf von Zeit zu Zeit einen Blick in die Runde. Wahrscheinlich ging ihm durch den Kopf, dass keinem Fremden die vielen Verrückten auffallen würden, die mit den anderen Domino spielten oder über Häuser und Grundstücke redeten, die sie nie besessen hatten, und über Städte und Länder, in denen sie nie gewesen waren.
    Dann kam Hester Prynne, die Frau, deren Leben ein Buch komplett verändert hatte. Sie war in Begleitung von Monsieur Norrik, einem hochgewachsenen Mann mit behaarten Händen und Armen. Hester war wunderschön, sie trug eine leichte Tunika mit roten Fransen. Die Männer warteten schon auf sie. Monsieur, Sie können sie nicht vergessen haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass Ihnen jetzt alles wieder einfällt. Oder etwa nicht? Ich meine die schöne Mulattin.
    Sie war die Tochter eines Kaufmanns aus Ostende und einer jungen Inderin, die bei der Geburt gestorben war. Nach dem Tod seiner Frau schickte er seine Tochter ins Kloster, doch dort las sie den Roman Der scharlachrote Buchstabe , der im Umschlag eines Messbuchs hinter die Klostermauern gelangt war. Sie war vollkommen hingerissen von diesem Buch und wollte wissen, was es mit dieser Leidenschaft, mit diesem aufreibenden Sehnen auf sich hatte. Sie traf sich mit einem jungen Seminaristen und holte sich am Ende die Syphilis, und mit der Krankheit befiel sie auch dieses Liebesverlangen, dieses wundersame, beklemmende Begehren, das sie nicht stillen konnte. Sie war damals erst dreiundzwanzig, und die Krankheit hatte ihr den Verstand, nicht aber ihre Schönheit geraubt.
    Das Fest nahm seinen Lauf.
    Auf Monsieur Vanheims Zeichen stand Petite Colbert auf, versammelte ihren Chor der Verrückten um sich und stimmte ein paar Trinklieder an. Die Stimmung war gut, alle waren fröhlich. Das war typisch für dieses Dorf, Monsieur van Gogh. Und es ist wohl typisch für jedes Dorf. Es braucht nur eine Geige aufzuspielen, und schon tanzen alle.
    Die Musik setzte ein, und kein Mensch dachte mehr an die Kutsche und an den Melancholiker aus Brüssel. Es war schon spät, draußen war es fast dunkel. Madame Russel war gekommen, behängt mit allem Schmuck, der ihr geblieben war, und auch der Bäcker war da, der Schornsteinfeger, Jack der Engländer, der in einem fort Rule Britannia sang, und der Lastenträger Aaron, mit der Bibel unterm Arm. Das Fest hatte auch Leute aus den Nachbardörfern angelockt. Aus Kivermoont waren Gina und Lola gekommen, zwei gelähmte Frauen, die von den Bauern auf den Armen getragen wurden. Aus Bell war Edvard der Unheilbare da und aus Schommeken Marius der Polterer.
    Ich wollte tanzen, Aaron hatte mich aufgefordert, daher bat ich Madame Vanheim um Erlaubnis und stürzte mich ins Getümmel. Ich wollte einen Ehemann finden, wollte verstehen, was da in Hesters Augen glomm, diese Erregung, ich wollte eine Frau werden, jede Nacht vor dem Einschlafen betete ich darum, dass das Blut kommen und meine Brust wachsen möge. Die Musik wurde stürmischer. Ich schloss die Augen, dann suchte ich Icarus‘ Blick, jemand streifte mich, es war ein unerwartetes Gefühl, ein Schaudern, vielleicht war es Icarus, vielleicht Hester Prynne, und ausgerechnet diese beiden – Icarus und Hester – schmiegten sich nun aneinander. Die beiden so eng umschlungen zu sehen machte mich wütend, und so bewegte ich mich auf sie zu, sie schienen mich jedoch nicht zu bemerken, denn sie schauten sich unentwegt tief in die Augen. Ich beschleunigte meinen Tanz, drehte mich im Kreis und hüpfte, ich kam mir plump vor, doch ich hörte nicht auf, ich lachte, es war heiß, ich schwitzte, und ich wollte zu Icarus, damit er mit mir tanzte, damit ich ihn von Hester Prynne wegziehen konnte.
    Und da, Monsieur van Gogh, sah ich Sie.
    Vor dem Fenster stand ein Schatten. Die Scheiben waren beschlagen, man sah nur einen Fleck wie aus dunklem Rauch. Ich weiß nicht, ob Sie mich anschauten. Und ich weiß nicht, wie lange Sie bereits dort standen.
    Sie spähten in das warme Haus, das so einladend wirkte, mit dem Essensduft, der durch die Fensterritzen drang, und mit der Musik, die Sie dorthin geführt hatte.
    Ich drehte weitertanzend eine ganze Runde, dann nahm mich Aaron bei der Hand und lenkte mich zum Kamin auf der anderen Seite des Salons, da, wo auch Icarus war, doch ich steuerte dagegen, meine Finger lösten sich aus seinem Griff und wurden kalt, ich war neugierig geworden, doch nein, es war nicht bloß

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