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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Verrückter. Das sah man schon an Ihren Hosen und an dem wirren Haar. Sie kamen nicht aus dem Samt einer Kutsche, sondern aus dem Gestrüpp des Kempenlandes.
    »Ich ... ich ...«, setzten Sie an, doch das Sprechen fiel Ihnen schwer. »Ich habe mich verirrt«, sagten Sie schließlich.
    Ja, Sie hatten sich verirrt.
    Mir war schnell klar, Monsieur van Gogh, dass Sie kein Landstreicher waren, sondern ein Pilger. Keiner, der vom Weg abgekommen war, sondern jemand, der, egal wo er sich befand, antwortete: »Ich habe mich verirrt.« Sie waren erschöpft. Nachdem man Ihnen einen Krug Bier gebracht hatte, ließ Ihre Erregung nach. Sie stürzten es hinunter, husteten und atmeten tief durch. Nach einigen weiteren Schlucken und einigen Bissen Brot kippten Sie um und schliefen ein.
    Weder das laute Stimmengewirr noch die Musik konnten Ihren tiefen Schlaf stören.
    Es zeigte sich bald, dass Sie wirklich nicht der Mann waren, auf den wir warteten, sondern ein zufällig hereingeschneiter Reisender. Gleichwohl nahm man Sie auf. Man gab Ihnen Franks Bett, das einzige, das noch frei war. Viele Leute blieben über Nacht im Haus der Vanheims, Freunde und Verwandte von auswärts. Doch Ihnen überließ man trotzdem eine Matratze, die Sie nach wer weiß wie vielen Nächten im Freien nur zu gern annahmen. Man fragte Sie nicht aus, erkundigte sich nicht, ob Sie ein Dieb seien oder ein Mörder, ein entflohener Sträfling oder ein Betrüger. Man hakte Sie unter, half Ihnen die Treppe hinunter und brachte Sie zu Bett.
    Das ist Geels Gastfreundschaft. Sie waren in Schwierigkeiten, und das hat in unserem sonderbaren Dorf schon immer genügt, um einen Kochtopf aufs Feuer zu stellen. Ich bin mir sicher, dass dies der einzige Ort auf der Welt ist, wo das geschieht.
    Langsam klang das Fest aus. Norrik zog Hester Prynne von Icarus weg, die alte Lisbeth gähnte, während Halois ihr noch etwas erzählte, Aaron verabschiedete sich von Vikar Torsten, nachdem sie über Hiob gestritten hatten, und das Ehepaar Vanheim zog sich zurück. Ich ging in mein Zimmer hinauf.
    Jemand berichtete von einer kaputten Brücke am Fluss Nete in der Nähe von Antwerpen. Ein plötzlicher Einsturz hatte die Weiterfahrt der Kutsche verhindert. Die Brücke musste repariert werden, und das würde Zeit kosten.
    Das Zimmer gehörte Ihnen.
    Kurz vor sieben ging ich hinunter. Ich hatte nicht viel geschlafen. Die Aussicht, Sie kennenzulernen und mit Ihnen zu reden, wühlte mich auf. Ich hatte den Wunsch, mich einem ungepflegten und so wenig anziehenden Mann wie Ihnen zu nähern, Monsieur van Gogh, einem Mann, der sich am Vorabend kaum hatte auf den Beinen halten können. Merkwürdig, oder?
    Als Madame Vanheim mich sah, trug sie mir auf, Ihnen Kaffee und warmes Brot zu bringen. »Sei leise, weck ihn nicht auf, wenn er schläft. Und sieh nach, ob er das Fenster eingeschlagen hat«, sagte sie ernst. Außerdem sollte ich Ihnen den Waschbottich unter dem Vordach auf der Rückseite des Hauses zeigen, wo sich, extra für Sie vorbereitet, hinter einem Paravent sauberes Wasser für ein Bad befand.
    Ich klopfte an Ihre Tür. Keine Antwort, nur ein unterdrücktes Stöhnen und das Poltern von etwas, das über den Boden rollte. Wahrscheinlich hatten Sie einen Alptraum.
    »Monsieur!«, sagte ich und trat ein.
    Sie erwachten sofort und setzten sich auf, in den Kleidern vom Abend zuvor. Im Zimmer stank es fürchterlich. Als Sie mich erblickten, rissen Sie die Augen auf. »Wer bist du? Wie heißt du?«
    »Teresa Ohneruh.«
    »Was ist denn das für ein Name?«
    »Meiner.«
    »Bist du die Tochter von Madame?«
    »Nein, Monsieur. Ich bin Waise.«
    »Dann bist du das Dienstmädchen hier?«
    »Eigentlich nicht, Monsieur.«
    »Da hast du Glück gehabt«, sagten Sie und fügten hinzu, auch Sie hätten eine Familie, »aber die ist mir schnurzegal.«
    »Ich bin es, Monsieur. Als Sie gestern Abend herkamen ...«
    »Gibt es zum Brot nichts dazu?«, fuhren Sie dazwischen.
    Sie gefielen mir nicht mehr.
    »Unter dem Vordach steht ein Waschbottich mit Wasser für Sie bereit«, sagte ich und ging. Pikiert. Ich fühlte mich verspottet.
    Ich zog mich in die Waschküche zurück, Monsieur van Gogh. Ihre großspurigen Bemerkungen hatten mich ver ärgert, diese wenigen, mit einer leicht schrillen, fast schon weiblichen Stimme gesprochenen Worte. Doch ich wunderte mich über meine Reaktion. Was hatte ich denn erwartet? Sie waren doch im Grunde nichts weiter als ein Vagabund. Trotzdem stellte ich mich ans Fenster, als Sie zu

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