Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
Neugier, ich war angezogen von diesem Gesicht, Ihrem Gesicht, von Anfang an spürte ich, dass da etwas war, ein Verlangen, eine Gefahr. Und so entwand ich mich Aarons Griff und blieb inmitten der anderen Tänzer stehen.
    Ich schaute erneut zum Fenster. Dort war niemand mehr, nur noch der Widerschein einer Lampe auf der Scheibe und draußen ein undurchsichtiger Nebel.
    Ich überlegte, ob Sie vielleicht ein Bauer waren, der sich verspätet hatte. Überzeugt davon, dass es gleich an der Tür klopfen würde, wartete ich darauf, dass Monsieur Vanheim öffnen ging und Ihr Gesicht wieder erschien, vielleicht würde ich Sie ja sogar erkennen. Doch nichts geschah.
    Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Verwirrt tat ich ein paar Tanzschritte.
    Aber nein, das konnte nicht sein. Ich hatte Sie gesehen.
    Vielleicht war dieser Passant ja nur ein Verrückter, ein unbedeutender Späher; wer weiß, wie viele schon vor ihm an diesem Abend vorbeigegangen waren, ohne dass ich es bemerkt hatte. Warum also beschäftigte er mich noch? Warum hatte ich das Gefühl, mir hätte jemand ein Geheimnis enthüllt? Warum dachte ich nicht mehr an Icarus?
    Es war doch nichts geschehen.
    Der Tanz wurde noch schneller, schwindelerregend, es war ein altes, belgisches Lied von einem Seemann, der einer Meerjungfrau begegnet, und Petite Colbert peitschte mit dem Bogen noch ungestümer über die Saiten. Die Leute klatschten in die Hände, klatschten auf die Knie und hakten sich gegenseitig unter, manche sangen mit, manche pfiffen, das Feuer prasselte, ich hätte glücklich sein müssen. Ich war kein kleines Mädchen mehr, ich tanzte mit den anderen, und ich sollte Hester Prynne die Stirn bieten und Icarus für mich gewinnen.
    Doch es gelang mir nicht.
    Ich fühlte mich umzingelt, spürte, dass Sie um das Haus herumgingen, spürte es wie das Schwirren einer Biene um eine Ranunkel, bevor sie sich auf ihr niederlässt. Es kam mir absurd vor, doch je mehr ich mich bemühte, diesen Gedanken zu verjagen, desto mehr bemächtigte er sich meiner wie ein wohliger Schauder. Ein Schauder, der von innen kam, aus dem innersten Mark , ein farbiger, ein rot-gelber Schauder, und er war stärker als mein Wunsch, Icarus anzuschauen, stärker als die Verbissenheit, mit der ich ihn Hester Prynne entreißen wollte, er war stärker als der Blick von Vikar Torsten, der mich lächelnd beobachtete, froh über alle Kerzen, die er angezündet hatte, um mich gesund aufwachsen zu sehen, er war stärker als die Angst, Madame Vanheim könnte mich im Visier haben und jeden meiner Tanzschritte kontrollieren.
    Da war etwas Stärkeres, Monsieur van Gogh. Die Musik schien – aller Hingabe von Petite Colbert und der anderen zum Trotz – schwächer geworden zu sein, und alles wirkte blasser, wie wenn meine Mutter mir im Traum erschien, und ich spürte erneut, dass Sie da waren. Ich begriff, dass Sie noch immer da waren, dort draußen, ich witterte Sie, es war ein Duft, der ins Haus drang, ein Windhauch an den Ohren, ich spürte, dass Sie mich umkreisten, mich und nicht das Haus, Sie umfingen mich, zielten direkt auf meinen Körper, um ihn sich zu eigen zu machen, und dieses Gefühl kam nicht von der Müdigkeit oder vom Rausch des Tanzes und auch nicht vom Bier, das ich heimlich getrunken hatte. Meine Haut spannte wie an dem Tag in der Kohlengrube, und so tanzte ich weiter und näherte mich dabei dem Fenster, denn dorthin würden Sie zurückkehren, an die Stelle, wo ich Sie gesehen hatte.
    Dessen war ich mir sicher.
    Ich näherte mich rückwärts, langsam und so, als bemerkte ich Sie gar nicht, wie einem Tier, das man einfangen will. Ich war kaum noch zwei Meter vom Fenster entfernt und spürte die kalte Zugluft, die meinen Schweiß zu Eis erstarren ließ. Da drehte ich mich um und sah zum ersten Mal deutlich Ihr Gesicht, die blauen Augen, das orangerote Haar, die blasse Haut, die fahlen Wangen.
    Nein, ich kannte Sie nicht.
    Ich hatte Sie in Geel noch nie gesehen.
    Ich sprach Sie nicht an.
    Ich kam mir schlau vor, schlauer als Sie. Ich hatte Sie ertappt, aufgestöbert. Wahrscheinlich lächelte ich Ihnen zu, als wäre das nur ein Spiel, das ich erfunden hatte, der Augenblick, kurz bevor man einen Fisch zurück ins Meer wirft, der Augenblick, in dem man ihn am Angelhaken zucken sieht. Als Sie mich sahen, erschraken Sie, rührten sich jedoch nicht von der Stelle.
    Wie Sie mich so anstarrten, verlor ich mich in Ihrem Blick, verlor ich meine Sicherheit. Obwohl viele Jahre ins Land gegangen sind,

Weitere Kostenlose Bücher