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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Zweifel.
    »Und Doktor Tarascon?«, erinnerte sich Monsieur Vanheim.
    Seiner Frau riss der Geduldsfaden. »Tarascon, Tarascon, ständig dieser Tarascon! Du machst dir zu viele Sorgen, er ist ja schließlich kein König. Außerdem quartieren wir Tarascon neben Teresa ein. Oder willst du ihn etwa in der Kammer unter der Treppe unterbringen? Nichts für ungut, Monsieur van Gogh. Er kommt doch ohnehin erst in ein paar Tagen.«
    »Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Medizin, meine Liebe, und wir ...«
    »Und wir kommen auch ganz gut ohne ihn zurecht!«
    »Ich habe nichts, was ich Ihnen geben könnte«, redeten Sie dazwischen. »Ich besitze keinen roten Heller.«
    »Zerbrechen Sie sich darüber mal nicht den Kopf, Vincent. Niemand würde irgendetwas von Ihnen verlangen.«
    »Doch wenn Sie möchten ...«, sagten Sie und zogen einige zusammengerollte Blätter aus Ihrer Tasche, »könnte ich Ihnen die hier schenken, falls sie Ihnen gefallen. Für Ihre Gastfreundschaft. Ich habe noch viel mehr davon.«
    Sie rollten die Blätter aus und zeigten den beiden eines davon. Es war eine Zeichnung, eine wer weiß wo angefertigte Skizze. »Es ist nur ein Zeitvertreib, keine große Sache, doch wenn Sie es annehmen wollen ...« Die Vanheims schienen nicht gerade begeistert von diesem schäbigen Stück Papier zu sein. Ihr Blick nahm einen sonderbaren Ausdruck an, und Madame Vanheim versicherte Ihnen mit größtmöglicher Diplomatie: »Nein, danke, keine Sorge. Wir verlangen nichts für das wenige, das wir Ihnen bieten.«
    »Wenn es Ihnen recht ist, können Sie sich jetzt gern weiter ausruhen«, sagte Monsieur Vanheim und beendete das Gespräch.
    Sie bedankten sich und gingen Richtung Tür. Mir schien, als schimmerte in Ihren Augen eine gewisse Zufriedenheit. Sie hatten Ihr Ziel erreicht: ein paar Tage Ruhe, ohne etwas zahlen zu müssen, bevor Sie Ihre Reise ins Ungewisse fortsetzten.
    »Teresa!« Herrisch hallte Ihre Stimme durch das Treppenhaus, und Ihr Kopf erschien über dem Geländer. »Ist noch Hühnchen da?«
    Ich wollte gerade ausgehen, um Besorgungen zu machen, und war nicht darauf gefasst, Ihnen so plötzlich gegenüberzustehen. »Da müssen Sie in der Küche nachfragen, Monsieur. Ich weiß es nicht.«
    »Und Oliven? Ich liebe Oliven.«
    »Ja, vielleicht. Aber Oliven sind sehr teuer.«
    »Papier?«
    »Ich habe keine Ahnung, Monsieur.«
    »Könnten Sie mir nicht welches besorgen?«
    »Ich ...«
    Was war es, was Sie so unausstehlich machte? Vielleicht Ihr Ton, der Ton eines Menschen, der sich das Recht herausnimmt, im Haus reicher Leute alle möglichen Forderungen zu stellen. Oder vielleicht das Ausrufungszeichen, das Sie hinter meinen Namen setzten und das ihn zum Anfang eines Befehls werden ließ.

    Mit jener Nacht aber wurde alles anders: als ich beschloss, Sie heimlich zu beobachten. Spontan, ohne weiter darüber nachzudenken, zündete ich eine Kerze an und huschte die Treppe hinunter.
    Ich war mir sicher, dass Sie nicht schliefen, und als ich zu Ihrem Zimmer kam, bestätigte sich diese Vermutung. Aus der angelehnten Tür drang ein schmaler Streifen Licht und dazu ein kratzendes Geräusch. Ich drückte die Tür nach und nach weiter auf, bis ich Sie sehen konnte. Sie waren vollkommen in Ihr Tun vertieft, kein Kanonendonner hätte Sie wohl abgelenkt. Heute gestehe ich Ihnen, dass ich Sie mehr als eine Stunde lang beobachtete. Sie saßen über ein Blatt Papier gebeugt, mit einem Bleistiftstummel in der Hand. Ich konnte den Blick nicht von Ihren Augen wenden, die konzentriert auf Ihre Sätze gerichtet waren. Skeptische und begeisterte Augen, erstaunt und nachdenklich. Manchmal glichen Sie einem Schiff, das vom Pier ablegt, Sie schrieben viele Sätze hintereinander, unaufhaltsam, doch dann hielten Sie inne und begannen, mit den Silben zu geizen, als wäre jede einzelne höchst kostbar. Oder jede einzelne falsch. Sie strichen halbe Seiten durch, zerrissen ein ganzes Blatt, standen auf wie nach getaner Arbeit, doch dann trieb Sie etwas wieder zum Tisch, und Sie begannen erneut.
    Sie fuhren mit dem Stift auf und ab, doch es gab kein Wort, das auf diese Weise ein Blatt füllen konnte, das solchen Linien folgen konnte, es gibt einfach keinen Satz, den man so groß schreibt. Dann leuchtete Ihr Blick wieder auf, dieser Blick vom Vortag, draußen am Fenster, dieser Blick, der mir so gefiel, er ähnelte dem der Grubenarbeiter, die bei Sonnenuntergang nach Hause gehen, dem der Sämänner, wenn ein Unwetter aufzieht, dem meiner Mutter,

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