Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
bevor sie mich gebar, dem von Joëlle an dem Tag, als sie zur Frau wurde. All diese Blicke vereinten Sie in sich, und auch meinen.
    Da verstand ich.
    Und ich glaube noch immer, dass dies der Tag war, an dem ich mich in Sie verliebte.

    Sehen Sie, auch ich habe einen Radiergummi, und auch er hat viele Worte ausgelöscht, die ich eilig niedergeschrieben hatte. Wenn ich sie nochmals durchlese, scheinen sie mir zwar manchmal die richtigen zu sein, doch dann klingen sie plötzlich undeutlich, ungenau. Sie drücken beinahe das aus, was ich fühle, sie grenzen an das, was ich sagen möchte, mehr oder weniger , doch eben nicht genau. Zuweilen geschehen uns Dinge, die zu groß sind, die nicht in die Wörter passen und deshalb nach allen Seiten überfließen wie eine Quelle, die sich in einen bereits vollen Eimer ergießt. Vielleicht werde ich irgendwann wieder von vorn beginnen, ebenfalls alles zerreißen oder meinen Brief Wort für Wort vernichten, unerbittlich, ergeben und böse, damit jeder einzelne Satz mich verletzt, mir eine Wunde zufügt.
    Doch jetzt konzentriert sich mein Radiergummi lediglich auf ein Wort. Nur eine kleine Bewegung und alles sähe anders aus, Monsieur van Gogh. Ich müsste nur ein einziges Wort tilgen. Verliebt . Dieses Wort wiegt schwer, finden Sie nicht? Ich habe es Ihnen gegenüber nie gebraucht, und auch heute habe ich nicht die Kraft, es einfach so zu sagen, ich versuche, es zu erklären, es zu deuten, um es kleiner zu machen, ihm sein Gewicht zu nehmen, denn es erschreckt mich. Nach so vielen Jahren, nach allem, was geschah, ist dieses Wort noch immer mit Zweifeln behaftet. Vielleicht ist nun alles anders. Damals war es vielleicht fraglich, ob ich mich in Sie verliebt hatte. Heute frage ich mich nur, ob Sie mich als die lieben könnten, die ich bin.
    Und wenn es nun doch geschehen wäre? Von Zeit zu Zeit taucht diese Frage wieder auf. Was wäre denn überhaupt geschehen? Was bedeutet es, sich zu lieben? Wie hätte sich das Leben verändert? Ich habe ein großes Verlangen nach Ihnen und weiß nicht einmal, was für ein Verlangen das ist, ob alle Frauen es haben oder nur ich, ob es nur meine Art ist, zu begehren. Sie zu begehren. Ich möchte so vieles wissen, was ich wohl nie wissen werde. Ich wünschte mir von so vielen Dingen, sie wären geschehen, die nie geschehen werden. Ich wünschte, dieses Feuer, das mich noch immer erstaunt, dieses Feuer, so orangerot wie Ihr Haar, hätte meine Arme wirklich umzüngelt, hätte mir wirklich den Atem genommen, hätte dieses Sehnen verschlungen, das mich noch immer verbrennt. Und ich habe Angst. Die Erinnerungen an Sie scheinen mir zerbrechlich zu sein, ich habe Angst, sie könnten zerspringen, ich fürchte, dass ich diese ganze Leidenschaft nicht darauf stützen kann, diesen Sturm, den ich suche und nicht kenne, den ich suche, obwohl ich bereits in ihm bin, dieses Verlangen, in dem ich herumtappe. Ich habe Angst, dass dies alles einseitig ist, ohne Sie, dass ich Sie liebe und Sie zugleich allmählich vergesse, dass ich in meiner Liebe zu Ihnen allein bleibe. Es wäre schön gewesen, wenn wir uns geliebt hätten. Was hätte ich dann kennengelernt? Und was hätte mir mehr gefallen, zu lieben oder von Ihnen geliebt zu werden? Und hätten Sie mich betrogen? Was für eine Frau wäre ich wohl heute?

    Am nächsten Tag war ich schon vor Ihnen wach.
    Ich hatte die ganze Nacht kaum geschlafen. Beim ersten Hahnenschrei sprang ich auf. Ich musste unter allen Umständen herausbekommen, was auf jenen Seiten stand. Ich befürchtete, Sie könnten sie wegwerfen oder mitnehmen oder zur Post bringen. Ich brannte vor Neugierde. Zwar war mir bewusst, dass mein Verhalten ungehörig war, dass ich Ihnen nicht nachschnüffeln durfte, doch meine Neugier war stärker.
    Ich ging also in den Salon hinunter und wartete endlose Minuten auf ein Geräusch aus dem Keller, bis ich Ihre Tür quietschen hörte. Um mir den Anschein von Geschäftigkeit zu geben, staubte ich das Klavier ab. Mit schwerem Schritt kamen Sie die Treppe herauf und gingen dicht an mir vorbei: »Ich will ein wenig frische Luft schnappen, Teresa.«
    »Ich sage Madame Bescheid, seien Sie unbesorgt.«
    Verstohlen schaute ich aus dem Fenster, und sobald Sie weit genug entfernt waren, ließ ich das Staubtuch fallen und hastete nach unten. Ich schaute zuerst auf dem Schreibtisch nach, doch der war fast leer. Dort lag nur ein Buch, in dem es um Grubenarbeiter ging, von jenem Zola geschrieben, von dem mir Icarus erzählt

Weitere Kostenlose Bücher