Alle Farben des Schnees
verklebt. Seit ihrem Unfall entzündet es sich leicht, weil sich das Lid noch nicht selbstverständlich schließt. Sie steht da, aufrecht, und lächelt. Sie hat etwas von der Anmut eines Waldtieres, denke ich, etwas Scheues, Wildes.
Wir sind zusammen Fahrrad gefahren, letzten Sommer. Helen auf dem Mountainbike immer voraus.
Sie fährt noch da, wo ich kaum gehe. Von Sent aus ins Seitental Val Sinestra hinein, hoch auf eine Alp, dann
steil hinunter und hinüber über eine Hängebrücke, eine Hand am Geländer, die andere das Velo tragend. Sie klettert mit dem Rad über Felsen und fährt schmale Wurzelwege, am Abgrund entlang. Unten ein zischender Gebirgsbach. Ich schiebe. Sie wartet. Sie zeigt mir Pilzplätze und weiß, wo wilder Spinat wächst.
Im Februar schneite es stark. Helen fuhr mit dem Auto von Sent hinunter nach Scuol. Die Strecke am Steilhang hatte keine Leitplanken. Das Auto ist gegen einen Baum der Allee geknallt und hat sich den Hang hinunter überschlagen. Ein aus Scuol kommender Busfahrer hat das auf dem Dach liegende Auto in der Schneewiese gesehen und den Notarzt angerufen. Der Notarzt hat die Bewußtlose ins Spital nach Scuol gebracht. Dort hat man sofort einen Rettungshubschrauber gerufen, der sie ins Krankenhaus nach Chur brachte. Es war viele Tage nicht sicher, ob Helen überleben würde.
Ja, endlich, sage ich. Sie lacht. Sie hat ihre Locken mit einem Band im Nacken zusammengebunden. Wann gehen wir Radfahren? frage ich. Ich fahre schon, sagt sie, zur Arbeit hinunter nach Scuol und wieder hinauf.
Helen ist Sozialarbeiterin, wie ihr Mann Werner, der in Scuol die Buttega leitet, eine geschützte Wohn- und Arbeitsstätte für Menschen mit einer Behinderung.
Schau, sage ich, alles ist verwildert. Es geht noch, sagt Helen, und ich habe so schon von deinem Mangold geerntet.
Hier wohnen heißt, hier etwas wachsen lassen können.
Hinter unserem Haus haben wir noch ein winziges Stück Wiese, da, wo früher der Heustall gegen Süden unmittelbar an das alte Hotel Rezia anschloß. Jetzt steht hier ein junger Kirschbaum. An der Bruchsteinmauer gegen Westen, die beim Abriß des Stalls stehenblieb, blüht ein Rosenstock. Johannisbeerbüsche tragen rote, gelbe, schwarze Früchte. Dazwischen Minze.
Immer wieder die Bemerkung: Das war aber mutig von euch. Das war doch eine Entscheidung! Und dann seid ihr da wirklich hingezogen? In ein Dorf in den Bergen?
Wir sind nach Sent gezogen, sage ich manchmal. (Und denke: Wir sind nicht in ein Dorf auf der Schwäbischen Alb gezogen. Und nach Zürich auch nicht. Und ist es nicht auch mutig, einfach weiterzuleben, wie man lebt?)
13. September
Mit dem Hund gehe ich die obere Dorfgasse Richtung Osten in die Wiesen hinaus. An der Weggabelung nehmen wir die mittlere Straße, die ins Val Sinestra führt. Nach wenigen Metern biegt rechts ein schmaler Feldweg ab. Hier beginnen die alten steilen Ackerterrassen, die heute fast alle Wiesen sind. Es gibt noch das eine oder andere Roggenfeld, Gerstenfeld. Nun sind sie abgemähte, helle Streifen. Unter mir liegt der kleine Friedhof. Etwa 300 Meter tiefer fließt der Inn. Je nach Windrichtung
kann man sein Rauschen hören. Der Hund ist vorausgesprungen. Sein rotes Fell blitzt durch das Grün. Ich habe eine Robydog-Tüte für Hundekot an die Leine geknotet und beobachte ihn.
Ungefähr hier ist die Entscheidung gefallen.
Es war ein warmer Septemberabend im Jahr 2005. Der Hund sprang voraus. Der Umbau unserer Senter Ferienwohnung in dem alten Bauernhaus war so gut wie abgeschlossen. Manfred, mein Mann, und ich gingen nebeneinander, dem Verlauf des Tals gegen Osten nach, vor uns die gleißenden Schneegipfel des S-chalambert, von Österreich her ein milchiger Glanz, im Süden noch das blaue Licht aus Italien.
Ich sagte: Wir könnten auch hierher ziehen.
Manfred schwieg.
Nur kurz. Dann sagte er: Ja, das können wir machen. Nun schwieg ich. Er hatte das Verb im Indikativ benutzt. Im fehlenden Zungenschlag für ein »t« lag unsere Zukunft im Unterengadin.
Von nun an besprachen wir nur noch den Zeitpunkt des Umzugs. Silvia, unsere Tochter, studierte schon in Hildesheim. Unser Sohn Andreas stand vor dem Abitur. Unser kleiner Sohn Matthias würde im kommenden März sechs Jahre alt werden und sollte im Sommer in die Schule kommen. Würden wir sofort umziehen, wäre Andreas während des Abiturjahrs allein in Tübingen. Das wollten wir nicht. Wir entschieden uns, Matthias in Tübingen einzuschulen.
Ende Juli 2007
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