Alle Farben des Schnees
würden wir umziehen. Matthias sollte dann in die zweite Klasse der rätoromanischen Grundschule in Sent kommen.
14. September
Ich zupfe die vertrockneten Nelken in den Blumenkästen. Immer noch hängen tiefrote Blüten kopfüber vor dem Weiß der Fassade. Es ist eine alte Sorte: Engadiner Hängenelken. Sie blühen überall im Dorf. Ihre Silhouette erscheint in den Vorhängen der Bauernhäuser, auf Stickereien in den Stuben. Zwei, drei Wochen werden wir die Kästen noch draußen lassen können. Wann kommt der Schnee? Unsere Nelken stehen auf den Fensterbänken der Nordseite, zur Straße hin. Zwei der Kästen auf unserer Hausseite, drei weitere auf der breiteren Seite der Ferienwohnung.
Am Anfang sollte es nur eine Ferienwohnung sein.
Je nach Geduld unserer Zuhörer erzählen Manfred und ich die Geschichte in immer neuen Varianten. Wenn wir nicht in Sent wohnten, würden wir keine dieser Erzählungen glauben.
Es war im Herbst 1991/92. Eine ehemalige Studienkollegin hatte im Autoradio von Scuol gehört, einem Ort im Unterengadin, der noch nicht so touristisch und teuer sei. Sie schlug ein Freundestreffen in den Winterferien vor. Aus Tübingen, Heidelberg, Paris kamen
wir in Scuol im Hotel Quellenhof zusammen, das mit seinem riesigen Speisesaal und den großen, nicht modernisierten Zimmern (ausladende Badewannen, Messingarmaturen, hohe Spiegel) noch etwas vom Glanz des Kurlebens der Jahrhundertwende hatte. Der Koch war Italiener, über weiße eingedeckte Tafeln zogen sich silberne Platten mit verschiedenfarbigen Nudeln. Das Scuoler Skigebiet Motta Naluns war nicht besonders groß, aber es war schön und es gab Pisten aller Schwierigkeitsgrade. Ich erinnere mich an einen Tellerlift, der um die Ecke fuhr und mehr sportliches Können und Gleichgewichtssinn erforderte als jede Abfahrt. Eine 13 Kilometer lange Piste führte von der Gipfelstation Salaniva hinunter in das Dorf Sent. Dort saßen wir dann an der Haltestelle Sent-Sala und warteten auf den Postbus nach Scuol. Und Manfred sah zu den dicken Häusern mit den Sgraffitofassaden und sagte: Wenn wir einmal Geld haben, kaufen wir hier eine Ferienwohnung.
Wenige Monate zuvor waren wir aus Griechenland zurückgekommen. Manfred hatte an der Universität Thessaloniki Deutsche Literatur unterrichtet. Ich war begleitende Ehefrau und Reporterin gewesen. Mir fehlte Griechenland und ich hätte mir auch eine Ferienwohnung auf der Peloponnes, in der Mani, vorstellen können. Aber Manfred sagte, da müßte man immer fliegen, und er kam mit der Hitze nicht besonders gut zurecht. Aber das Meer, sagte ich. Und sah über die Dächer ins Engadinblau.
Nach diesem ersten Winter kamen wir fast jede Ferien zurück. Im Sommer meist nach Guarda, das westlich von Scuol gelegene Terrassendorf auf 1650 Metern, Schauplatz des Bündner Kinderbuchs »Schellenursli«. Wir wanderten ins Tuoi-Tal hinein, sammelten Pilze, Silvia lernte Ziegen melken. Andreas schloß sich der Fußballjugend von Guarda an. Im Winter kamen wir zum Skifahren nach Scuol, Ftan oder Sent.
Die Jahrtausendwende verbrachten wir im Hotel Rezia in Sent. Ich war schwanger mit Matthias. Manfreds Mutter und meine Mutter waren schon tot; unsere alten Väter aber lernten den Kleinen noch kennen. Als sie innerhalb eines Jahres starben, erbten wir so viel, daß die Idee einer kleinen Ferienwohnung realistisch wurde. Wir nahmen Kontakt auf zu einem Immobilienhändler in Scuol. Es gab einige Bauprojekte, denen wir uns anschließen wollten, die aber nicht zustande kamen. Es schien, daß sich damals niemand außer uns für eine Ferienwohnung in Sent interessierte.
Im Sommer 2002 wurden wir in Scuol an einer der Reklamefensterscheiben des Einkaufszentrums Augustin auf ein kopiertes Din-A4-Blatt aufmerksam. Über die Photographie eines alten Bauernhauses war der Entwurf für zwei Wohnungen skizziert, eine große und eine kleinere. Hier war offensichtlich eine Überbauung geplant. Wir riefen bei der angegebenen Telephonnummer an und sagten, wir würden uns für die kleinere der
beiden Wohnungen interessieren. Mengia war am Apparat, die älteste von vier Geschwistern. Ihre Stimme war dunkel und freundlich. Das Bauernhaus war ihr Elternhaus, ein altes Bäckerhaus. Es stehe leer. Die Erbengemeinschaft der Geschwister wolle es verkaufen. Mengia sagte, Mina, die jüngste Schwester, würde uns das Haus zeigen.
Wir verabredeten uns auf den nächsten Tag. Ein weißes Auto hielt vor dem Center Augustin. Mina, braungebrannt
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