Alle Farben des Schnees
während die linke Hand flink die Baßknöpfe drückt, den Balg auseinanderzieht und wieder zusammenpreßt. Ich habe etwa zwei Jahre lang Akkordeon gespielt, von knapp elf bis dreizehn Jahren, es waren die ersten Jahre der Menstruation.
Im Herbst nach dem Umzug haben Matthias und ich mit Klavierunterricht begonnen bei Oscar, an der Musikschule in Scuol. Ich hätte auch in Tübingen Klavierspielen lernen können. Aber erst mit dem anderen Ort kam die vergessene Kindheitslust. Und der Mut, noch einmal zu beginnen.
Gut, sage ich zu Ida, wir spielen.
Ida gehört zu den Randulins, den Schwalben. Über die Jahrhunderte sind Engadiner, vor allem Senter, aus Not, aus Abenteuerlust nach Italien gegangen und haben versucht, dort als Zuckerbäcker ihr Glück zu machen. Wenn sie scheiterten, hörte man nichts mehr von ihnen. Aber vielen gelang es, zunächst in Venedig, später in Florenz, Livorno, Siena, Pisa, La Spezia, San Remo, Neapel, Bari, Catania und anderswo eine neue, städtische Existenz zu gründen. Auch in Marseille oder Petersburg, Berlin und Kopenhagen entstanden Bündner
Kaffeehausdynastien. Ende des 18. Jahrhunderts lebte etwa ein Fünftel der Senter Bevölkerung in der Fremde. Vor allem die Auswanderer nach Italien aber blieben ihrer Heimat im Unterengadin verbunden. In den Sommern kamen sie zurück. Und sie investierten in das Dorf ihrer Kindheit. Sie bauten italienische Palazzi und legten auf der Senter Straße eine Baumallee an, die hinunterführt bis an die Gemeindegrenze von Scuol. Seit Generationen treffen sich, meist im August oder auch um Weihnachten, die Randulins aus Italien, die Wurzeln im Dorf haben. Sie kommen in die Paläste, die ihre Vorväter hier neben die dicken Bauernhäuser gebaut haben und überziehen das Dorf der Bauern und Handwerker mit einer urbanen Italianità. Ida ist eine Schwalbe, die blieb. Seit ihrer Pensionierung vor vier Jahren wohnt sie in der ehemaligen Sommerresidenz ihrer Familie, in der auch ihre Mutter das Alter verbracht hat. Ida trägt gerne Schwarz und Rot, manchmal Ringelsocken, manchmal Dekolleté. Randulins erkennen sie sicher als eine der ihren. Dieser kleine Anflug von städtischem Chic, auch wenn sie Wanderhosen und Sportschuhe trägt. Je nachdem, mit wem sie spricht und über was sie spricht, wechselt sie (manchmal mitten im Satz) zwischen Italienisch, Romanisch, Deutsch. Die Randulins sprechen ein anderes Romanisch, sagt sie, ein Romanisch mit viel Italienisch drin, sie haben ganz eigene Ausdrücke. Und in Italien bilden sie immer noch Netze, Kolonien aus Sent.
Wir haben also geübt, Ida und ich, vierhändig. Und weil ich Angst vor dem Klavierspielen hatte, hatte ich keine Angst mehr vor der Lesung. Es ist keine Kunst, gut zu sein. Aber auszuhalten, daß man etwas nicht kann und es dann trotzdem zu versuchen, das ist schwer. Ein Kind weiß das nicht. Es bewundert den besseren Mitschüler, der sich souverän in einem Fach bewegt und dann auch noch eine gute Note bekommt. Aber ist es nicht eine mindestens ebenso hervorragende Leistung, wenn ein schlechter Schüler, bei fortschreitendem Lernstoff, seinen Stand doch hält?
Ich war immer schlecht in Mathematik, obwohl mich Mathematik fasziniert hat. Sinus- und Cosinuskurven, Tangenten, die Algebra der Matrizen, unendliche Zahlen, irrationale Zahlen. Aber ich konnte nicht rechnen. Ich habe immer Fehler gemacht. Vielleicht, weil ich Angst vor den Fehlern hatte.
22. September
Der geweißelte Gewölbekeller der Grotta ist fast voll. Das Publikum ist gut gelaunt und klatscht. Ich spiele lausig. Ida rettet, was zu retten ist. Hinterher kommt eine Frau auf mich zu und sagt: Sie haben einen schönen Anschlag.
23. September
Esther Krättli, Redakteurin vom Romanischen Radio in Chur, hat mir Gedichte der rätoromanischen Lyrikerin Luisa Famos (1930-1974), die im Nachbardorf Ramosch lebte, auf eine CD gesprochen. Ich höre die Verse im Echo von Esthers Stimme:
Vers saira
Cur sunasoncha
Rebomba tras cumün
Tuot dvainta nouv
Am Abend
Wenn die Glocken
durch das Dorf widerklingen
wird alles neu
Wir kannten uns nicht. Esther wollte für eine Sendung das neue Buch von Nicola Bardola, »Schlemm«, besprechen, das vom Freitod seiner Eltern in einem Ort Sins handelt. Sins ist unschwer als Sent zu identifizieren. Bardolas Eltern, Randulins (die Urgroßeltern waren um 1900 aus Sent ausgewandert und hatten in Genua eine Zuckerbäckerei und die Bar Bardola gegründet), besaßen in Sent ein Haus. Esther
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