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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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beiden sahen uns skeptisch an.

    Aber ihr behaltet eine Wohnung in Tübingen?
    Nein, sagten wir, wenn wir kommen, kommen wir ganz. Und Matthias geht dann hier in die Schule.
    Und die Kultur? fragten sie.
    Unsere Bücher bringen wir mit, sagte ich. Der heuwagenhohe Hausflur würde die Bibliothek werden.
    Und eure Freunde?
    Unsere Freunde kamen auch nach Griechenland. Das war weiter weg als das Engadin.
     
    Am Abend sehe ich ein großes, aufgeschlitztes Reh kopfüber vom Dach eines Schuppens hängen. Das Dorf ist jetzt leerer und aufgeladener zugleich. Ich war noch nie beim Jagen dabei, kenne das Leben auf den Jagdhütten nicht. Tierzeit, in der andere Gesetze gelten. Engadiner Jagd, das war für uns zunächst der Bildschirmschoner unseres Architekten Rico, auf dem ein 14-Ender erhaben über uns hinwegsah. Und dann begriffen wir, daß man während der Tage der Jagd, egal für welchen Auftrag, keinen Handwerker bekommt. Einmal möchte ich mitgehen; bislang habe ich im letzten Augenblick immer abgesagt. Ich will nicht sehen, wie ein Tier erschossen wird. Aber ich esse gerne Hirsch und Gemse und Reh. Sichere Widersprüche.
    Bis Dezember kann man bei den zwei Senter Metzgern frisches Wild kaufen, über das Jahr gibt es Trockenfleisch. In Sent gehen auch Frauen zur Jagd. Vielleicht frage ich einmal eine Jägerin, ob sie mich mitnimmt. Aber auch Frauen schießen Tiere tot.

20. September
    Matthias und ich fahren mit den Rädern ins Val Sinestra hinein. Helen hat uns eine steile Lichtung gezeigt, auf der es Pilze gibt. Von den Bäumen kommt ein warmer Geruch. Fichten, Föhren, Lärchen. Es braucht eine Weile, bis sich die Augen eingestellt haben. Das Finden des ersten Pilzes dauert am längsten. Die Augen müssen das Pilzesehen erst lernen. Die versteckten matten oder orangehellen Köpfe der Pfifferlinge im Moos, unterm Gras. Die dunklen Hüte der Steinpilze im Schatten eines tiefen Gezweigs. Ihr runder, dicker Stiel. Es gibt auch Preiselbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren. Wir verlieren uns, rufen nach einander. Als wir müde sind, haben wir sicher zwei Kilo Pilze gefunden. Wir geben sie in die Fahrradtaschen und fahren heim.
     
    Lesung in Sent, in der Grotta da cultura. Noch vor unserem Umzug hatte sich im Dorf eine Kulturvereinigung gebildet, die in einem kleinen Gewölbekeller des Hotels Rezia einen Veranstaltungsraum mit Bar und Internet eingerichtet hat. Die Gemeinde unterstützt das Projekt, indem sie die Miete bezahlt. In der Grotta da cultura finden regelmäßig Konzerte, Filmabende, Lesungen und Ausstellungen statt, meist mit Bezug zum Dorf. Aber der Bezug zum Dorf kann auch nur darin bestehen, daß sich jemand aus dem Dorf für irgendetwas interessiert. Dann hat er in der Grotta da cultura einen Raum dafür.

     
    Es ist viel schwieriger, im eigenen Dorf zu lesen als in der Fremde. Vor meiner Lesung wird die Ausstellung mit Druckgrafiken von Gian Andri Albertini eröffnet. Er ist im Oberengadin geboren und lebt seit 1982 in Sent. Hier arbeitet er auch als Küster und macht Dorfführungen. Ida, seit ihrer Pensionierung freie Organistin in einigen Gemeinden des Unterengadins und Mitglied des Programmkomitees der Grotta, kam auf die Idee, daß es zwischen dem Ende der Ausstellungseröffnung und meiner Lesung Klaviermusik geben solle. Diabelli, vierhändig, sagt Ida, sie lacht mit ihren roten Lippen. (Wir haben schon zusammen gespielt.) Das kann ich nicht, sage ich. Ich werde mich verspielen. Das hört keiner, sagt sie.
    Anfänge, denke ich. Warum sind in diesem Dorf auf einmal Anfänge möglich.
     
    Als Kind habe ich immer Klavier spielen wollen. Meine Eltern aber sagten, die Wohnung sei zu klein für ein Klavier und kauften mir ein Akkordeon. Mein Akkordeonlehrer hieß Herr Wiener. Herr Wiener war ein alleinstehender, melancholischer Mann, der in einer Musikalienhandlung der Stadt als Verkäufer arbeitete. Wie meine Mutter war auch er ein sudetendeutscher Flüchtling. Einmal die Woche kam er nach der Arbeit abends zu uns nach Hause, und ich saß mit dem Akkordeon auf den Knien am Wohnzimmertisch. Meine Mutter sah zu. Herr Wiener leitete auch ein kleines Akkordeonorchester in einem Dorf vor der Stadt. Ich wollte mir
einbilden, daß es besser sei, Akkordeon zu spielen als gar kein Instrument. Ich übte »Die Himmel rühmen«, die Arienmelodie der Barcarole von Jacques Offenbach oder klassische Stücke heiterer Volksmusik. Ich war kein heiteres Kind. Ich mochte auch die enge Bewegung nicht, mit der der linke Arm,

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